Brenda Joyce
»Francesca, Sie bleiben mit Mrs Burton
hier. Robert, bitte holen Sie Ihren Mantel und zeigen Sie mir dieses Baumhaus.«
Die beiden Männer hasteten aus dem Zimmer, doch Eliza rannte
hinter ihnen her und Francesca folgte ihr notgedrungen. »Ich komme auch mit!«,
rief Eliza.
Francesca kam ein schrecklicher Gedanke – was, wenn der Junge dort
in dem Baumhaus lag, verletzt oder tot? Sie packte Elizas Arm. »Das ist keine
gute Idee.«
»Bleiben Sie im Haus«, befahl Bragg, ohne sich noch einmal zu den
Frauen umzuwenden.
Eliza riss sich von Francesca los. »Sagen Sie
mir nicht, was ich zu tun habe!«, rief sie. »Es geht schließlich um meinen
Sohn.« Mit diesen Worten raffte sie ihren Rock und rannte los.
Niemand machte sich die Mühe, einen Mantel
überzuziehen. Francesca vermochte kaum Schritt zu halten mit Eliza, die den
beiden Männern quer durch den Garten hinter dem Haus folgte. Mittlerweile war
die Sonne verschwunden, und dicke Wolken zeigten sich am Himmel. Schnee lag in
der Luft, und ein kalter Wind fegte durch den Garten.
Die alte Eiche stand nicht weit von der Mauer
entfernt, die den Besitz der Burton von dem der Cahills trennte. Der Baum war
so kahl wie der Rest des Gartens, die schweren Äste mit Schnee bedeckt.
Eine Leiter führte zu dem Baumhaus hinauf, das zwischen den beiden Hauptästen
Halt fand. Bragg hatte die Leiter als Erster erreicht und befahl Burton, unten
zu bleiben. Während der Polizeipräsident vorsichtig zum Baumhaus hinaufstieg
und sich durch den schmalen Eingang zwängte, hoffte Francesca inständig, dass
dies nicht das Ende der Suche sein würde und der Junge steif gefroren und
blutüberströmt in dem Baumhaus läge.
Eliza zitterte furchtbar. Erst jetzt bemerkte Francesca die eisige
Kälte und legte ihren Arm um die andere Frau, was diese gar nicht wahrnahm.
»Was ist dort oben?«, rief Burton verzweifelt.
Nach einer Weile ertönte Braggs Stimme: »Eine weitere Nachricht.«
Francesca spürte, wie ihre Beine vor
Erleichterung nachgaben. Sie lächelte Eliza an, der die Tränen über die Wangen
liefen.
»Wo kann er nur sein? Warum tut mir jemand so etwas an?«,
flüsterte Eliza.
Bei diesen Worten schoss Francesca ein Gedanke
durch den Kopf, und ihr Lächeln erstarb. Was, wenn Eliza das Ziel dieses
Verrückten war? Im Geiste sah Francesca sie in Wahrheit in verschiedenen
Situationen vor sich: Eliza, wie sie an einem sommerlichen Sonntagnachmittag in
einer offenen Kutsche durch den Central Park fuhr und ihr die Gentlemen Grüße
zuriefen. Eliza in einem prächtigen, weißen Kleid mit einem weißen
Sonnenschirm über dem Kopf, die von einem jungen Mann über den See gerudert
wurde. Eliza am Samstagabend auf dem Ball, umringt von Männern, von denen
jeder einzelne voller Bewunderung für sie war. Francesca dachte daran, wie
Wiley Eliza an jenem Abend angesehen hatte. Wie Evan sie bei zahllosen Gelegenheiten
angesehen hatte. War die Entführung womöglich die Rache eines liebeskranken
Verehrers, den Eliza einst zurückgewiesen hatte?
In diesem Moment kam Bragg wieder
heruntergeklettert. Francesca reckte den Hals um zu sehen, was er in der Hand
hielt, und stellte fest, dass der Umschlag schneeweiß war. Sie seufzte
erleichtert auf. Dann wanderte ihr Blick hinauf zu Braggs Gesicht. Etwas
stimmte nicht. Seine Haut trug eine grünliche Färbung, als müsse er sich jeden
Augenblick übergeben.
»Bragg?«,
flüsterte sie.
An dem Blick, mit dem er sie ansah, konnte
Francesca ablesen, dass sich in dem Umschlag etwas Schreckliches befminden
musste.
Der
Polizeipräsident räusperte sich. »Alle zurück ins Haus!«, befahl er, aber seine
Stimme klang heiser und undeutlich. »Was steht drin, verdammt?«, fragte Burton
verzweifelt. »Wir sollten uns ins Haus begeben. Ich möchte Sie unter vier Augen
sprechen, Robert, und anschließend werde ich eine Unterhaltung mit Ihrer Frau
führen.«
»Was steht
drin?«, schrie Burton.
Doch Bragg war offenbar fest entschlossen, den Inhalt des
Umschlags noch nicht zu offenbaren.
»Francesca?«,
sagte er.
Sie begriff sofort und nahm Elizas Arm. »Es ist furchtbar kalt«,
sagte sie. »Wir sollten dem Commissioner gehorchen, Eliza. Er leitet die
Untersuchung dieses Falles und ist hier der Verantwortliche.«
Als Eliza sie ansah, las sie in ihrem Blick Hoffnungslosigkeit und
Resignation und hatte das Gefühl, eine gebrochene Frau vor sich zu haben. Eliza
nickte und ließ sich gegen Francesca sinken, die sie stützte.
»Geben Sie den Brief her, zum Teufel
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