Brenda Joyce
Yorker Polizei eine Affäre hatten.
Francesca konnte keinen klaren Gedanken
fassen. Sie ging vom Fenster weg, um sich auf das erste Möbelstück zu setzen,
das sie erreichte. Noch nie war sie derart verwirrt gewesen. Was war nur mit
ihr los? Wen kümmerte es schon, wenn Eliza Braggs Geliebte war? Unwillkürlich
stiegen ihr die Tränen in die Augen. Mich kümmert es, gestand sie sich
ein.
Sie schlug die Hände vors Gesicht und stellte überrascht
fest, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Dabei hielt sie sich doch für
einen vernünftigen Menschen. Schließlich erreichte man mit Weinen auch nicht
mehr. Francesca wischte sich entschlossen über das Gesicht. Bei der Erkenntnis,
die sie plötzlich durchfuhr, sprang sie unwillkürlich auf. Es dürfte Dutzende –
nein, Hunderte – junger Männer in dieser Stadt geben, die Eliza Burton offen
bewundern und möglicherweise heimlich lieben.
Waren das nicht Braggs Worte gewesen?
Sie erinnerte sich, dass er behauptet hatte,
der Junge sei nicht tot. Dass er darauf bestanden hatte, das Ohr stamme von
einer anderen Kinderleiche und nicht von Jonny Burton. Und wie wütend er
gewesen war, als sie andeutete, dass Eliza möglicherweise log, um ihre Ehe zu schützen.
Mit einem Mal begriff Francesca, warum Bragg diesen Fall so persönlich nahm,
warum er nicht an den Tod des Jungen glauben wollte und Elizas Ruf so
nachdrücklich verteidigte. Sein ganzes bisheriges Verhalten hatte darauf
hingedeutet, wie nahe er Eliza stand – jedes Wort, jede Tat konnte als Beweis
dienen, dass er in sie verliebt war. Und nun hatte Francesca es mit eigenen
Augen gesehen.
Wie lange mochte die Affäre wohl schon
dauern? Und wie brachte es Eliza nur fertig, ihren Mann derart zu betrügen? Und
was war mit Bragg? Francesca erstarrte. Im Geiste hörte sie wieder die Worte
ihrer Mutter: »Habe ich es dir nicht gesagt? Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm, Schätzchen.« Francesca hätte sich beinahe die Ohren zugehalten, als könne
sie auf diese Weise die selbstgefällige Stimme ihrer Mutter abstellen, die sie
in Gedanken verspottete.
In diesem Moment ertönte ein Klopfen an der
Tür. Francesca rief: »Einen Augenblick, bitte!« und eilte ins Badezimmer. Ihre
Augen waren ein wenig gerötet vom Weinen. Sie schenkte ihrem Spiegelbild ein
grimmiges Lächeln, wischte sich über die Wangen und schob einige Strähnen ihres
goldblonden Haares hinter die Ohren. Es half nichts. Die widerspenstigen
Locken fielen ihr umgehend wieder ins Gesicht, und ihre Augen blieben
verdächtig rot. Schlimmer noch, sie verspürte eine Übelkeit, die von einem
schrecklichen Gefühl der Leere in der Magengrube begleitet wurde – oder saß es
mitten in ihrer Brust?
Francesca atmete tief durch. Dann ging sie
zurück in ihr Zimmer und öffnete die Tür. Ein Dienstmädchen wartete davor.
»Der Commissioner ist hier, um mit Ihnen zu sprechen, Miss
Cahill«, sagte die junge Frau.
Bragg war in den
Salon neben dem Empfangszimmer geführt worden und hatte Francesca offenbar
nicht kommen hören. Sie verharrte einen Moment lang auf der Türschwelle und
betrachtete ihn unbemerkt. Er stand vor dem Kamin und schaute mit leerem Blick
ins Feuer. Obwohl er frisch rasiert war, machte er einen erschöpften Eindruck,
und es schien, als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Er litt so
offensichtliche Qualen, dass Francesca sie am eigenen Leib zu spüren glaubte.
Doch sie rang das aufsteigende Mitgefühl
nieder. Dieser Mann war ein Lügner – und dabei war er ihr so edel und integer
vorgekommen. Sie war unglaublich enttäuscht und hatte jedes Recht, ihn zu
verachten. Francesca hatte nicht vor, sich von ihm zum Narren
halten zu lassen, so wie er im Grunde die gesamte New Yorker Gesellschaft zum
Narren gehalten hatte.
In diesem Augenblick wandte er sich um. »Francesca«, sagte er und
kam auf sie zu.
Sie wich einen Schritt zurück, worauf er
überrascht stehen blieb.
»Miss Cahill«, verbesserte sie ihn, ganz so,
als hätten sie nicht bereits viel Zeit damit verbracht, über die Entführung zu
sprechen, als hätte sich nicht inzwischen eine Art unausgesprochener
Partnerschaft zwischen ihnen entwickelt. Sie errötete, als sie bemerkte, wie
barsch ihr Tonfall geklungen hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er und betrachtete forschend
ihr Gesicht. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Nein. Natürlich ist nicht alles in
Ordnung.«
Sie lächelte verkrampft. Was würde er wohl
sagen, wenn sie ihn beschuldigte, Elizas Liebhaber zu sein?
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