Brenda Joyce
»Kinder,
ich muss ins Büro. Evan, begleitest du mich oder fährst du später?«
»Ich werde dich in die Innenstadt begleiten, Vater.« Evan
blinzelte Francesca zu. »Es wird schon alles gut gehen, Fran. Vertrau mir«,
sagte er.
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum und
blickte ihm nach. An der Tür wandte er sich noch einmal um und sagte: »Du hast
mir versprochen, dass du sie besuchen wirst.«
Francesca lächelte, ein wenig zu matt, wie sie fürchtete.
»Das werde ich auch tun«, sagte sie leise.
Als die Männer gegangen waren, schob sie
ihren Teller beiseite, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub den
Kopf in den Händen. Sie fühlte sich wie gerädert. In der vergangenen Nacht
hatte sie sich stundenlang im Bett gewälzt, ehe sie endlich eingeschlafen war.
Dann hatte sie einen Albtraum gehabt, in dem abgeschnittene Ohren und Rick
Bragg vorkamen. In dem Traum hatte sie Jonny Burton gefunden, doch dann stellte
sich heraus, dass es in Wahrheit Joel Kennedy und alles nur ein großer Fehler
gewesen war.
Bragg war angeblich seit der Entführung
zweimal bei den Kennedys zu Hause gewesen. Hatte er nicht gesagt, dass sie in
der Avenue A wohnten, in unmittelbarer Nähe der Tenth Street? Sie mussten Joel
finden, um Gordino aufzuspüren. Der Ganove war die einzige Verbindung zu dem
Verrückten, der hinter der Entführung und diesen schrecklichen, sadistischen
Nachrichten steckte.
Wieder einmal fragte sich Francesca, ob das
Ohr nicht doch Jonny gehört haben könnte. Was, wenn er noch gelebt hatte, als
man es ihm abschnitt? Großer Gott! Francesca sprang
auf und begann auf und ab zu laufen. So etwas Schreckliches darfst du gar nicht
denken, ermahnte sie sich.
Sie legte die Hände auf die pochenden
Schläfen. Maggie Kennedy war eine anständige, fleißige Frau. Sie arbeitete für
Moe Levy, einen bekannten Hersteller von Herrenbekleidung in New York. Ob
Maggie womöglich Vorbehalte gehabt hatte, sich Bragg zu offenbaren, weil er
von der Polizei war? Was wäre, wenn Francesca mit ihr reden würde, von Frau zu
Frau? Sie beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen. Sie würde zum College
fahren und das Seminar besuchen, dann eine Stunde lang lernen und anschließend
Maggie aufsuchen.
Plötzlich sah sie durch das Fenster, dass auf der Fifth Avenue
etwas hell aufblitzte. Es war Braggs Automobil, das soeben am Eingangstor der
Cahills vorbeifuhr und anschließend vor dem Haus der Burtons hielt.
Vermutlich hatte er die Morgenzeitungen
gelesen und besuchte nun die Burtons, um ihnen alles zu erklären. Vielleicht
würde er ihnen begreiflich machen, dass Jonny nicht unbedingt tot sein musste.
Francesca zögerte nicht lange. So schnell sie konnte, rannte sie nach oben in
ihr Zimmer. Mit dem Opernglas in der Hand trat sie ans Fenster. Sie richtete es
auf die Fifth Avenue und stellte fest, dass Bragg das Nachbarhaus bereits
betreten hatte.
Nach einer Weile erschien seine Silhouette an einem der Fenster
des kleinen Salons im Erdgeschoss. Bragg stand bewegungslos da, nur sein Mund
schien sich zu bewegen. Seinen Gesprächspartner konnte Francesca nicht
erkennen, doch sie nahm an, dass es sich um Burton oder Eliza handelte. Kurz
darauf sah sie Eliza auf Bragg zueilen. Sie war es also, mit der er gesprochen
hatte. Und dann erstarrte Francesca plötzlich.
Eliza blieb nicht stehen, sondern stürzte
sich in Braggs Arme. Er hielt sie fest und drückte sie an sich, während ihr
Gesicht an seiner Brust lag. Zweifellos weinte sie, und er hielt sie in seinen
Armen, um sie zu trösten. Doch Francesca begriff, dass Eliza Burton und Rick
Bragg sehr viel mehr waren als bloß flüchtige Bekannte.
Kapitel 9
DIENSTAG,
21. JANUAR 1902 – 8.30 UHR
Sie waren Geliebte.
Francesca
starrte durch das Opernglas, wobei ihre Hände so stark zitterten, dass sie kaum
noch etwas zu erkennen vermochte. Aber Francesca war sich ganz sicher, dass
sie gesehen hatte, wie Bragg Eliza über das Haar gestreichelt hatte. Und ein
Mann und eine Frau hielten einander nur dann auf eine solche Weise fest – wenn
sie sich liebten.
Plötzlich sprangen die beiden auseinander.
Francesca beobachtete, wie Eliza von Bragg wegtrat und mit jemandem sprach.
Einen Augenblick später bestätigte sich Francescas Vermutung: Burton hatte das
Zimmer betreten.
Ihr war plötzlich übel. So übel, dass sie
glaubte, sich übergeben zu müssen. Wie rührend!, schoss es ihr durch den Kopf.
Dann fragte sie sich, ob Burton wohl ahnte, dass seine Frau und der
Commissioner der New
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