Brenda Joyce
Augenblick spürte sie jeden Zentimeter
seines Körpers – eines Körpers voller Kraft und Stärke. Und dann schob er sie
von sich, nur einen Fingerbreit, nicht weiter.
Er starrte sie forschend an, noch immer diesen entsetzlich grimmigen
Ausdruck auf dem Gesicht. Das Blut schoss ihr in die Wangen. Wie konnte sie
verleugnen, dass sie sich furchtbar zu ihm hingezogen fühlte? Nach der
vergangenen Nacht war sie keinen Augenblick mehr im Einklang mit ihrem Körper
gewesen. Dieser Mann brauchte sich nur im selben Raum zu befinden wie sie,
und schon ging ihr Atem schneller.
»Fühlen Sie sich besser?«, erkundigte er sich leise, ohne den
Blick von ihren Augen zu wenden.
»Ja.« Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, doch es gelang ihr nicht.
»Ich fürchte, Sie hatten Recht, Hart! Sie ist so wunderschön.«
»Nicht so schön wie Sie«, versetzte er ruhig.
Francesca versteifte sich. »Sie schmeicheln
mir ...«
»Ich bin kein Mann für Schmeicheleien. Wischen Sie sich die Tränen
ab – es sei denn, Sie wollen, dass die gesamte Familie erfährt, was sich in den
vergangenen vierundzwanzig Stunden ereignet hat.« Er schien gehen zu wollen,
doch dann wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Ach ja, Ihre Mutter ist
übrigens völlig außer sich. Offenbar war es nicht vorgesehen, dass ich den Zug
versäume.«
Francesca errötete.
Er blickte sie mit unverminderter Gelassenheit an. »Ich habe Sie
gedeckt, Francesca. Ich habe Julia erzählt, ich hätte wegen einer dringenden
Besprechung den Zug verpasst und hätte eigentlich mit Ihnen und Rick fahren
wollen.«
»Vielen Dank«, brachte sie heraus.
»Den Dank nehme ich ein andermal entgegen. Übrigens – wo zum
Teufel steckt Rick jetzt eigentlich?« Plötzlich veränderte sich seine Miene.
»Warten Sie – ich verstehe. Er muss mit Leigh Anne gegangen sein. Verdammt!«
»Hart, was ist geschehen?« Sie
umklammerte sein Handgelenk. »Was geschehen ist?« Er zog ungläubig die
Augenbrauen hoch. »Einer der Zwillinge wurde entführt, Francesca. Heute Morgen
nach dem Frühstück, direkt unter den Augen der Kinderfrau.«
Kapitel 17
DIENSTAG,
18. FEBRUAR 1902 – KURZ VOR MITTAG
Francesca schnappte nach Luft. »Ja, Sie haben richtig gehört«,
sagte Hart düster. »Die Kinderfrau geht jeden Morgen nach dem Frühstück mit
den Zwillingen spazieren. Heute früh ist sie um neun Uhr aufgebrochen. Noch vor
halb zehn kam sie zurück. Craddock ist einfach auf sie zugestürmt, hat Chrissy
aus dem Kinderwagen gerissen und ist mit ihr in ein wartendes Fahrzeug
gesprungen.«
»O mein Gott.« Francesca klammerte sich an seinen Arm. »Und Lucy?«
»Ist völlig hysterisch«, erwiderte er. Dann wandte er sich ab und
ging so rasch den Flur entlang, dass Francesca laufen musste, um mit ihm
Schritt zu halten.
»Aber auf dem Zettel stand doch, er wollte sich das Geld heute
Mittag abholen!«, rief sie aus.
»Offenbar hat er seine Meinung geändert. Nun,
einen Trost gibt es: Er war auf Geld aus und ist es vermutlich noch immer. Folglich
nehme ich an, dass er keineswegs einen Mord begehen wird.«
»Calder!« Sie packte ihn von hinten an der
Weste.
Er wirbelte so abrupt herum, dass sie gegen ihn prallte. »1890
wurde in Fort Kendall ein grausiger Mord verübt. Die Tat wurde niemals
aufgeklärt. Shoz floh eine Woche später, während Craddock unter den Häftlingen
die Position des Ermordeten einnahm. Craddock ist überaus gefährlich«,
berichtete sie mit gesenkter Stimme.
»Er wird nicht mehr lange eine Gefahr darstellen«, versetzte Hart
trocken. »Mein Privatdetektiv ist ihm auf den Fersen. Wir haben bereits
herausgefunden, wo er sich bis letzte Woche aufgehalten hat. Ängstigen Sie
sich nicht – sobald er gefunden wird, schaffe ich ihn aus dem Weg, auf die eine
oder andere Weise.« Sie verstand genau, wie er das meinte. Nach dem, was inzwischen
vorgefallen war, konnte sie es ihm nicht einmal mehr verübeln. Sie dachte an
die reizenden Zwillinge, dann an Lucy, und eine tiefe Verzweiflung überkam sie.
»Was tun wir jetzt? Auf Nachricht von Ihrem Detektiv warten? Oder
von Craddock selbst? Er wird doch gewiss eine Lösegeldforderung stellen«,
sagte Francesca.
»Das garantiere ich Ihnen«, bestätigte Hart
knapp. »Im Augenblick können wir nichts weiter tun als warten. Aber wir brauchen
Rick. Wenn er irgendeine Qualität besitzt, so ist es Scharfsinn.«
Noch während er das sagte, klingelte es an der Haustür. Er starrte
Francesca an. »Das muss mein über alle Maßen tugendhafter Bruder
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