Brenda Joyce
etwas nicht!«,
rief sie hinter ihrem Bruder her. »Papa liebt dich, und du liebst ihn auch, das
weiß ich!«
Evan wandte sich um und rief: »Liebe? Das kann man ja wohl kaum
als Liebe bezeichnen! Wenn er mich liebte, würde er mich nicht zwingen, diese
unscheinbare alte Jungfer zu heiraten, die kein Mann eines zweiten Blickes
würdigt! Eine Frau, die ich schrecklich langweilig finde und die ich nun für
den Rest meines Lebens ertragen muss! Soweit es mich angeht, hat er seine
Rechte als Vater verwirkt. Ich habe keinen Vater mehr, Fran!« Mit diesen Worten
wandte er sich um und eilte die breite Granittreppe zum Eingang des
Metropolitan Clubs hinauf, wo ihn zwei livrierte Türsteher umgehend einließen.
Mit Tränen in den Augen klopfte Francesca
gegen die Trennscheibe und sagte: »Jennings, bringen Sie mich bitte nach
Hause.«
MONTAG, 3. FEBRUAR 1902 – 11.45 UHR
Vor der alten
Steinkirche an der Ecke der Lexington Avenue und der Fifty-eighth Street – eine
presbyterianische Kirche aus dem achtzehnten Jahrhundert – stieg Francesca aus
ihrer Mietdroschke. Sie blieb für einen Moment vor dem Eingang stehen und
beobachtete, wie mehrere Trauergäste mit ernsten Gesichtern die Kirche
betraten. Als sie am Morgen in der Zeitung gelesen hatte, dass der
Trauergottesdienst für Paul Randall um zwölf Uhr gehalten würde und das
Begräbnis im Anschluss daran auf dem Yonkers Friedhof im Norden der Stadt
stattfinden sollte, hatte sie kurz entschlossen ihr Biologie-Seminar
geschwänzt, um daran teilnehmen zu können. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie das
Begräbnis nicht versäumen sollte, obgleich sie für ihr häufiges Fehlen im
vergangenen Monat bereits von einem ihrer Lehrer verwarnt worden war.
Ihre Arbeit als Kriminalistin ließ sich nun einmal sehr schwer mit
ihrem Studium vereinbaren.
Immer wieder hielten Kutschen und Droschken am Randstein vor der
Kirche, um ihre Passagiere aussteigen zu lassen. Die Lexington Avenue war eine
belebte und laute Straße, was größtenteils
auf die Straßenbahnen zurückzuführen war, die in sehr kurzen Abständen
vorüberfuhren. Als Francesca gerade ebenfalls die Kirche betreten wollte,
erblickte sie ein glänzendes, cremefarbenes Automobil, das in zweiter Reihe
neben einer geparkten Kutsche hielt. Es war ein Daimler, und es bestand kein
Zweifel daran, wer der Fahrer war.
Bragg schaltete den Motor aus und stieg aus dem Wagen. Er trug
einen dunkelbraunen Mantel, der bei jeder Bewegung mitschwang. Als er mit
seinem schnellen, entschlossenen Schritt auf Francesca zukam, vollführte ihr
Herz einen Hüpfer. Er sah an diesem Morgen einfach umwerfend aus!
»Guten Morgen«, begrüßte er sie, und der Blick, den er ihr zuwarf,
kam ihr wieder einmal viel zu durchdringend vor – oder war er vielleicht
einfach nur vertraulich?
Francesca freute sich, ihn zu sehen, und obwohl seine Worte am
Abend zuvor so Unheil verkündend geklungen hatte, strahlte sie ihn jetzt an.
»Zwei Seelen, ein Gedanke«, begrüßte sie ihn ein wenig atemlos.
»In der Tat.« Sein Blick wanderte über ihr Gesicht. »Ich habe
heute Morgen ein Telegramm erhalten.«
»Aus Philadelphia?«, fragte Francesca
neugierig.
»Können Sie Gedanken lesen?«, zog er sie auf.
Sie lächelte und wartete darauf, dass er ihr den Inhalt des Telegramms
mitteilen würde.
»Bill Randall hat einen Zimmergenossen auf dem Campus, Alistair
Farlane. Er hat angegeben, Bill das letzte Mal am Donnerstagmorgen gesehen zu
haben. Wenn Bill wirklich, wie er behauptet, Freitagnacht noch in Philadelphia
gewesen ist, dann hat er nicht im Studentenwohnheim übernachtet – oder
zumindest nicht in seinem Zimmer.«
»Dann habe ich also Recht gehabt«, flüsterte
Francesca aufgeregt. »Es war also Bill, der an dem Mordabend an den Tatort kam. «
»Es sieht ganz so aus.«
Als erneut eine Mietdroschke am Straßenrand
hielt, beobachteten sie, wie eine rundliche Frau ausstieg und auf den Bürgersteig
trat. Francesca wusste, dass Bragg gehofft hatte, es könnte sich um Georgette
de Labouche handeln.
Ihre Blicke begegneten sich. »Ich hatte damit gerechnet, dass Miss
de Labouche womöglich hier auftauchen würde«, gestand Francesca.
»Das möchte ich bezweifeln. Irgendwelche neue Spuren?« Sie
zögerte. »Eine. Ich werde es Sie wissen lassen, wenn sich daraus etwas ergibt.«
»Das will ich doch hoffen!«, erwiderte er und setzte zu einem
Lächeln an, blickte dann jedoch zur Seite. Francesca folgte seinem Blick und
sah, dass soeben die Familie Randall in
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