Brief in die Auberginenrepublik
gekleidet, zum Trauerort, meist das Haus der Familie des Verblichenen, und schrie, bevor sie eintrat: »Oh Bester aller Besten, oh Großzügigster aller Großzügigen, oh Liebster aller Lieben … Ohne dich wird das Leben armselig und schändlich sein …« Das tat sie bei jedem, unabhängig davon, ob der Tote ein guter oder schlechter Mensch war. Wenn die Angehörigen des Verstorbenen solche Lobgesänge hörten, fingen sie natürlich an zu weinen. Erst wenn alle Frauen geweint hatten und keine Tränen mehr flossen, hörte sie auf. Das tat sie drei Tage lang, bis die Trauerzeit vorüber war. Jeden Abend, wenn sich die Besucher verabschiedeten, erhielt sie von der Familie des Verstorbenen einen vollen Topf Essen und am letzten Tag auch Geld, um dafür zu beten, dass Gott dem Toten seine Sünden verzeihe.
Demonstrationsanimation hingegen war ein sehr einfacher Job. Wenn die Regierung ein Fest feierte, etwa den Geburtstag des Präsidenten, den Tag der Gründung der Armee oder die Geburt einer Tochter des Sohnes des Onkels der Frau des Präsidenten, was nahezu wöchentlich stattfand, kamen die Baathisten des Viertels zu meiner Mutter. Sie folgte ihnen zum Ort der Feierlichkeiten, die häufig auf dem Sahat Al-Ihtifalat Al-Kubra – Platz der großen Feier – im Zentrum Bagdads stattfanden, und musste ein Plakat tragen, auf dem irgendetwas Lobenswertes über den Präsidenten geschrieben stand. Manchmal musste sie ein T-Shirt überziehen, auf dem die irakische Flagge oder die irakische Landkarte abgebildet war. Zusätzlich musste sie marktschreierisch den Präsidenten loben, und sie schrie so laut wie möglich: »Unser Geliebter, unser Beschützer, unser Führer, Du sollst leben, und wir opfern uns für Dich …« Oder: »Krieger aller Krieger, Führer aller Führer, führe uns zu den Sternen!« Die Anwesenden mussten entweder einstimmen oder sie wurden sofort verhaftet. Das übliche Prozedere. Dafür gaben die Regierungsleute meiner Mutter jedes Mal einen Batzen Geld. Auf diese Art und Weise schaffte sie es, ihren Kindern alles zu bieten, was wir brauchten. Und sie war überglücklich, als sie mich endlich in meiner Uniform sah …
Meine Mutter hat mit diesen Jobs aufgehört, weil ich ihr es verboten habe. Nun hockt sie daheim und wartet auf meine Kunden, die Angehörigen der Gefangenen, als wäre sie meine Assistentin. Gleichzeitig glaubt sie fest daran, dass ich den Menschen helfe, die Hilfe brauchen. Das tue ich auch. In den ersten Jahren wünschte ich mir vor allem eine neue Wohnung außerhalb von Saddam City, ein Auto und eine hübsche Frau. Das waren meine Träume, und mehr wollte ich nicht. Nach einigen Jahren waren sie erfüllt.
Seit einigen Monaten bin ich nun Brief-Kontrolleur. Dieser Job gleicht einer echten Goldquelle. Meine Sesam-öffne-dich-Türen sind jetzt die Frauen, denn zuerst lese ich die Briefe, die an Frauen adressiert sind. Solche Briefe bringen mir viel Geld ein. Ich bedrohe die Leute, dass ich sie bei der Polizei anzeigen werde, wenn sie nicht bereit sind, für mein Schweigen zu bezahlen. Wenn es um Frauen geht, sind die Männer bereit, alles zu tun, und sie sagen nur einen Satz: »Bitte, es geht um unsere Ehre!« Das weiß ich natürlich, und dadurch mache ich die besten Geschäfte meines Lebens. Letzte Woche bedrohte ich eine Frau namens Bouchra. Sie erhielt einen Brief aus Amman, den ich natürlich vorher gründlich gelesen hatte. Ihr Mann, ein politisch Verfolgter, versprach ihr zu helfen, illegal nach Jordanien einzureisen.
»1500 Dollar!«, forderte ich von ihr.
»Ich habe kein Geld!«
»Dann werde ich den Brief weiterleiten. Ich will nicht wissen, was die Sicherheitspolizei dann mit dir anstellt.«
»Betrachte mich bitte als deine Schwester! Ich besitze nur 500 Dollar und kann noch 100 besorgen. Mehr ist unmöglich.«
»Nur 600 Dollar? Es geht um dein Leben!«
»Ich schwöre bei Gott, dass ich nicht mehr habe.«
»Okay. Dann unterbreite ich dir ein Angebot. Du bringst die 600, musst den Rest aber anders bezahlen. Weiß du, was ich meine?«, sagte ich und zwinkerte mit dem rechten Auge.
Die Frau schwieg.
»Morgen warte ich auf dich vor dem Karama-Hotel – Hotel Hochachtung – in der Sadwoun-Straße im Zentrum. Um 19 Uhr. Wenn du nicht auftauchst, dann – du weißt schon!«
»Bitte! Ich bin eine verheiratete Frau! Meine Ehre! Bitte!«
»Alles bleibt unter uns! Überleg es dir! Oder die vollständigen 1500 Dollar!«
Am nächsten Tag stand Bouchra tatsächlich vor dem Hotel
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