Brixton Hill: Roman (German Edition)
zu strapazieren, war ausgesprochen schwierig, denn er hatte nicht einmal das, was im Allgemeinen Gewissen genannt wurde. Ihn interessierte einzig, dass er mit allem, was er tat, ungeschoren davonkam.
Am liebsten versteckte er sich hinter seiner Tastatur. Miles vermied gern die direkte Konfrontation. Vielleicht nahm er hier und da auch mal an Demos teil, aber nur, wenn er sich sicher war, dass er jederzeit abhauen konnte, falls es brenzlig wurde.
Im Grunde war er das, was man im Internet einen Troll nannte. Wo immer er konnte, trieb er sich anonym herum und verspritzte sein Gift. Er schrieb Dinge über andere Leute, die er ihnen im richtigen Leben niemals auch nur zugeflüstert hätte. Er verhöhnte, lästerte, machte nieder, tobte, wütete, drohte und verwünschte. Miles trollte durchs Netz, weil er grundsätzlich unzufrieden war und es ihm Spaß machte, wenn sich andere über ihn aufregten. Sollte einmal jemand aus Versehen und Unkenntnis nett zu ihm sein, schaffte er es schnell, auch diesen von sich wegzutreiben. Wie die meisten Trolle sehnte er sich eigentlich nur danach, so etwas wie echte Wertschätzung zu erfahren.
Als sich Miles ein paar Aktivisten in London angeschlossen hatte, glaubte er, diese Wertschätzung gefunden zu haben. Er war ein hervorragender Hacker, und das wussten die anderen anzuerkennen.
Sie ließen ihn in ihre Gemeinschaft ein, ohne zu wissen, was für ein Troll er war, und Miles spürte vorerst kein allzu großes Verlangen mehr, andere zu schikanieren. Bis ihm diese Zugehörigkeit irgendwann zu schwierig wurde. Man forderte viel von ihm. Vor allem aber: Integrität. Und Miles war kein integrer Mensch. Die Idee, für das Wohl einer Gemeinschaft zurückstecken zu müssen, gefiel ihm nicht. Er war den Aktivisten gefolgt, weil er dachte, es ginge darum, Krawall zu machen. Randale. Chaos. Und, ganz wichtig: anderen die Schuld zu geben, wenn etwas im Leben schieflief. Es waren doch immer die anderen schuld. Die Politiker. Die Banker. Die anderen eben, die Geld hatten und eine gute Ausbildung und eigene Häuser.
Als er verstand, dass es um mehr als das ging, suchte er nach einem Ausweg. Und der bot sich auch bald. Ein Mann kam während einer Protestaktion auf ihn zu und sagte: »Leute wie Sie können wir gebrauchen. Sie haben doch Ziele im Leben. Sie wollen doch was erreichen. Jemand mit Ihren Fähigkeiten.«
Miles wusste nicht, dass man ihn gerade mit Honig in die Falle gelockt hatte. Er fühlte sich einfach bestätigt und dachte: Endlich sieht mal jemand, dass ich es draufhabe. Er sprach mit dem Mann und bekam einen Job. Miles war Softwareentwickler, und als solcher wurde er eingestellt. Miles war aber auch Hacker, und vor allem diese Fähigkeit wollte man nutzen. Er wurde gefragt: Kann man die Klimasteuerung eines Gebäudes manipulieren? Kann man die gesamte Technik eines Hochhauses verrücktspielen lassen und es auf jemand anderen schieben? Miles sagte Ja. Und tat es. Er wurde gefragt: Kann man die Sprinkleranlage eines einzelnen Stockwerks abschalten? Und die Rauchmelder? Miles sagte: Ich will nicht wissen, wozu das gut sein soll. Und half.
Später las er in der Zeitung, was er angerichtet hatte. Er hatte kein schlechtes Gewissen, weil er sagen konnte: Ich habe kein Feuer gelegt. Ich habe nur getan, was man mir gesagt hat. Natürlich hatte er Angst vor juristischen Konsequenzen, doch da verließ er sich auf die Leute, die ihm das monatliche Gehalt zahlten. Moralisch war er mit sich im Reinen. Er hackte sich in Mailkorrespondenzen, erstellte Bewegungsprofile anhand von GPS -Daten, arbeitete im Grunde als Detektiv, der sich nicht aus dem Büro herausbewegen musste. Softwareentwicklung war kein Thema. Die Überstunden wurden großzügig honoriert. Miles hatte das Gefühl, endlich seinen Traumjob zu haben. Gemein sein, Leute ausspionieren, Geld dafür bekommen. Drei Monate lang befand er sich in diesem Paradies.
Dann sagte man ihm, dass er rausgehen müsse. Um in diesem Paradies zu bleiben, musste er tatsächlich raus. Geh auf die Straße. Mach das, was du hier tust, im echten Leben. Verfolge, spioniere, überwache, schlage zu. Miles wollte Nein sagen, aber er war nun mal der Feigling, der er war. Er sagte gar nichts. Auch nicht, als man ihm auftrug, bis zum Äußersten zu gehen. Man legte ihm Geld auf den Tisch. Dicke Bündel aus Fünfzigern. Zehntausend, hieß es. Natürlich nur eine Anzahlung.
Jetzt fand Miles die Sprache wieder. Statt zu sagen, dass er Angst hatte, die Sache zu
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