Brown Sandra
Patchett heute gefragt.«
Jade hatte seit dem letzten Telefonat nichts mehr von Otis Parker gehört. Sie hatte geschwankt, ob sie ihn anrufen und unter Druck setzen oder ihm noch Zeit zum Überlegen lassen sollte. Nun wußte sie ihre Vermutung durch Graham bestätigt – die Patchetts waren ihr auf den Fersen.
Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Sohn. »Du weißt, wie beschäftigt ich im Moment bin. Ich habe viele wichtige Entscheidungen zu treffen. Du bist alt genug, um das zu verstehen.«
»Aber in New York hattest du auch viel zu tun, und trotzdem warst du nicht so krampfig. Was ist denn überhaupt los?«
Sie fuhr ihm mit den Fingern durch das Haar. »Wenn ich in letzter Zeit etwas angespannt wirke, dann liegt das daran, daß ich dieses Projekt unbedingt hinkriegen möchte. Und weil ich will, daß du hier glücklich bist. Das bist du doch, oder? Du magst das Haus doch?«
»Klar, es ist toll, aber …«
»Aber was?«
»Na ja, meine neuen Freunde fragen mich immer ’ne Menge Zeugs. Wer mein Vater ist und ob Cathy mit uns verwandt ist und so. Du weißt schon, diesen ganzen Mist …« Er knabberte an einem Stückchen loser Nagelhaut. »Ich weiß, du hast mir immer gesagt, wir wären eben ’ne besondere Familie. Einmalig …« Seine blauen Augen schauten sie an.
»Ich will aber gar nicht besonders sein, Mom. Auch nicht einmalig. Ich wünschte, ich wäre normal, wie alle anderen eben.«
»Es gibt dieses Normale nicht, Graham.«
»Na ja, aber die meisten Leute sind schon normaler als wir.«
Auch wenn er schon groß war, Jade nahm ihn in die Arme und drückte sein besorgtes Gesicht an ihre Brust. »Manchmal passieren Dinge im Leben, über die man keine Kontrolle hat. Wir müssen das Beste aus dem machen, was wir bekommen haben.
Ich wollte immer von ganzem Herzen, daß du ein ›normales‹ Familienleben hast. Aber es ist nun einmal anders gekommen. Es tut mir leid. Ich habe mein Bestes gegeben. Und ich tue noch immer das, was ich für das Beste halte.«
Sie erinnerte sich daran, daß Cathy und Dillon ihr geraten hatten, Graham von der Vergewaltigung zu erzählen. Sie konnte es nicht tun. Ihr Sohn hatte es schon so schwer genug. Er mußte sich an die neue Umgebung gewöhnen und mit den Problemen des Erwachsenwerdens fertig werden. Sie konnte ihn nicht auch noch mit ihrer Tragödie belasten.
»Ich weiß doch, Mom. Vergiß es einfach.« Er befreite sich aus ihren Armen und versuchte zu lächeln.
»Ich entschuldige mich dafür, daß ich dich heute vor Dillon blamiert habe, und ich verspreche, es nicht wieder zu tun.«
»Warst du heute abend mit ihm zusammen?«
»Ja, warum?«
»Nur so.«
»Was?« fragte sie lachend. »Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd.«
»Na ja, schätze, Dillon kann dich gut leiden, was?«
»Natürlich kann er mich gut leiden. Wir könnten nicht zusammenarbeiten, wenn es anders wäre.«
»Ach komm, Mom. Du weißt schon, wie ich’s meine.«
»Wir sind Freunde.«
»Oh-oh.« Er grinste, als wüßte er es besser. »Glaubst du, ich werde mal so groß wie er?« Er sah auf die verblichene Fotografie seines Großvaters auf der Kommode. »Wie groß war Grandpa Sperry?«
Jade hatte Graham an seinem dreizehnten Geburtstag ganz offiziell die Ehrenmedaille und die Fotografie ihres Vaters, die sie immer gehütet hatte, übergeben. Als Graham noch klein genug gewesen war, um auf ihrem Schoß zu sitzen, hatte sie ihm Geschichten von ihrem Vater erzählt. Aber daß er sich umgebracht hatte, das hatte sie ihm verschwiegen.
»So eins fünfundachtzig, glaube ich.«
»Dann werde ich also mindestens auch so groß.«
»Wahrscheinlich.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Du mußt es damit nicht ganz so eilig haben, okay? Gute Nacht.«
»Nacht. Mom?«
»Hmm?« Sie drehte sich an der Tür noch einmal um.
»War mein Dad groß?«
Sie dachte an ihre drei Vergewaltiger und antwortete mit belegter Stimme: »Ziemlich.«
Graham nickte zufrieden und langte nach dem Schalter der Lampe über dem Bett. »Nacht.«
Kapitel 27
Jade saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete, als Neal unangemeldet, ohne anzuklopfen, hereinkam. Loner hatte nicht angeschlagen. Graham hatte ihn zum Fischen in einer nahen Bucht mitgenommen.
Neal lächelte, als sei nie etwas zwischen ihnen passiert. »Hi, Jade.«
»Was willst du hier?«
»Mein Daddy und ich wollen uns ein bißchen mit dir
unterhalten.«
»Worüber?«
»Abwarten. Wir wollen doch nicht seine Überraschung verderben.«
Eine Überraschung von den Patchetts konnte
Weitere Kostenlose Bücher