Bruder Cadfaels Buße
vernachlässigt worden. An der Tür des Verlieses verharrte er, lang und tief atmend. Kein Laut drang durch die dicken Mauern heraus, so wie von draußen keiner hineindrang. Das einzige Anzeichen von Leben war der düstere Lichtschein der zuckenden Fackel.
Mit zitternder Hand steckte Cadfael den Schlüssel ins Schloß und empfand mit einem Mal Angst. Nicht davor, im Inneren ein ausgemergeltes Wrack zu finden; jegliche Befürchtung dieser Art war längst von ihm gewichen. Er hatte Angst, weil er ans Ziel seiner Reise gelangt war und ihm jetzt nur noch der abscheuliche Absturz bevorstand, der sich nach dem Erfolg einzustellen pflegt. Dann der Heimweg in Gestalt eines mühseligen endlosen Abstiegs in eine lange Finsternis, die in nichts Besserem als dem Verlust endet.
Noch nie war er der Verzweiflung so nahe gewesen, doch dauerte diese Empfindung nicht lange an. Als sich das Metall des Schlüssels in die Öffnung des Schlosses schmiegte, war sie dahin, und Cadfaels Herz stieg wie eine sich brechende Welle der Kehle entgegen. Er stieß die Tür auf und sah sich über den kahlen Raum hinweg Olivier von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Bei der ersten Bewegung der Tür seines Gefängnisses war dieser aufgesprungen und stand angespannt da.
Offenbar rechnete er mit dem einzigen Besucher, der ihn je aufsuchte, wenn man vom Wärter absah, der sich um seine Bedürfnisse kümmerte. Das unerwartete Auftauchen eines anderen verwirrte ihn. Vermutlich war Kampfeslärm durch den Luftschacht, der vom Burghof in sein Verlies hinabführte, zu ihm hereingedrungen, und gewiß war er ebenso verzweifelt wegen seiner Hilflosigkeit wie der Ungewißheit, was dort droben vor sich gehen mochte. Der harte Blick, den er auf die Tür gerichtet hatte, war mit einem Mal milder und mit Verwirrung vermischt. Sein Gesicht wurde ruhig, gefaßt und mißtrauisch. Zwar glaubte er, was er sah - schließlich hatte es Vorzeichen gegeben, aber er verstand es nicht. Der ungezähmte Blick seiner goldbraunen Augen hieß den Ankömmling weder willkommen, noch wies er ihn zurück; noch nicht. Die Ketten an Oliviers Füßen hatten ein einziges Mal scharf geklirrt; dann lagen sie still.
Seine Züge waren härter und schmaler, als Cadfael sie in Erinnerung hatte, und von beunruhigender Wildheit; das Ergebnis aufgestauten Tatendrangs, der sich nicht hatte entfalten können. Das zitternde Licht der Kerze auf dem steinernen Sims ließ jede Linie seines Gesichts scharf hervortreten, und der Schein ihrer Flamme spiegelte sich in der glänzenden Iris seiner ebenso zweifelnden wie staunend aufgerissenen Augen. Er war sauber gewaschen und glatt rasiert, in keiner Weise entstellt; lediglich die Fesseln zeigten an, daß er gefangen war. Er hatte auf seinem Lager gelegen, als sich der Schlüssel im Schloß drehte; sein glänzendes schwarzes Haar lag ein wenig unordentlich und warf blaue Schatten auf die olivfarbene Haut unter seinen vorspringenden Wangenknochen.
Cadfael hatte ihn nie schöner gesehen, nicht einmal an jenem ersten Tag, als er in der Priorei von Bromfield sein Gesicht durch das offene Tor wahrgenommen hatte.
Damals war es über die junge Frau geneigt, die jetzt mit ihm vermählt war. Philip hatte Oliviers körperliche und geistige Eleganz durchaus zu würdigen, zu achten und zu bewahren gewußt, auch wenn sie sich unwiderruflich gegen ihn gewandt hatten.
Cadfael trat auf den Lichtschein zu, unsicher, ob Olivier seinen Besucher deutlich zu sehen vermochte. Der Raum war größer, als er erwartet hatte; in einer dunklen Ecke stand eine niedrige Truhe, auf der zusammengelegte Kleidungsstücke oder Teile einer Rüstung lagen. »Olivier?« sagte er zögernd. »Kennst du mich?«
»Ja, ich kenne dich«, antwortete Olivier mit leiser Stimme. »Man hat mir gesagt, daß du mein Vater seist.« Er sah von Cadfaels Gesicht zur offenen Tür hin und dann auf die Schlüssel in dessen Hand. »Draußen hat man gekämpft«, fuhr er fort und bemühte sich sichtlich, all diese verwirrenden Dinge in einen Zusammenhang einzuordnen. »Was ist geschehen? Ist er tot?«
Er. Philip. Wer sonst hätte es ihm sagen können? Und jetzt erkundigte er sich eindringlich nach seinem einstigen Freund, weil er wohl vermutete, daß diese Schlüssel nur nach dessen Tod in andere Hände gelangen konnten.
Aber in der Stimme, mit der er fragte, lag weder Eifer noch Zufriedenheit, lediglich die Gelassenheit, mit der man Unabänderliches hinnimmt. Wie sonderbar, dachte Cadfael und sah seinen Sohn
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