Bruderschaft der Unsterblichen
Heirat gehabt und Babies bekommen, du hast Paris und sogar Tokio gesehen, du hast Champagner und Kaviar probiert, und du bist sogar über Weihnachten zum Mond geflogen mit deinem Mann, dem reichen Arzt. Und dann kommt der Tod zu dir und sagt: Alles klar, LuAnn, war nicht schlecht, der kleine Ausflug, was, Baby, nur leider ist jetzt Schluß. Peng, und du hast Gebärmutterkrebs, deine Eierstöcke verfallen, eine dieser weiblichen Geschichten eben. Und über Nacht kommen die Metastasen, du ve r wandelst dich im Krankenhaus in eine Ansammlung stinkender Flüssigkeiten. Meinst du, wenn du ein norm a les Leben von vierzig oder fünfzig Jahren hinter dir hast, bist du eher geneigt, es aufzugeben? Macht das nicht die Ironie noch furchtbarer, wenn du gerade herausgefunden hast, wie toll das Leben sein kann, und dann ist es plöt z lich vorbei? Du hast nie über solche Dinge nachgedacht, LuAnn, aber ich. Und ich sage dir: Je länger du lebst, desto länger willst du leben. Außer natürlich, wenn du unheilbar krank oder verstümmelt oder ganz allein in der Welt bist und alles nur noch eine Last bedeutet. Aber wenn du das Leben liebst, kannst du nie genug davon bekommen. Sogar du, du süßer, gelassener Dummkopf, du willst nicht davon ablassen. Und ich auch nicht. Ich habe an den Tod von Oliver Marshall gedacht, glaube es mir, und ich wehre mich mit aller Kraft gegen diese Vo r stellung. Warum habe ich mit dem Medizinstudium b e gonnen? Nicht etwa, um mein Glück damit zu machen, den Damen aus der Vorstadt Pillen zu verschreiben, so n dern um auf dem Gebiet der Geriatrie zu forschen nach dem Phänomen der Senilität, nach der Verlängerung des Lebens. Damit ich dem Tod ins Gesicht schlagen kann. Das war mein großer Traum und ist es immer noch. Und dann kommt Eli und erzählt mir von den Hütern der Schädel, und ich höre ihm zu. Ich höre zu.
Mit sechzig Meilen in der Stunde fahren wir nach W e sten. Der Tod von Oliver Marshall könnte gleich in acht Sekunden eintreten – peng, krach, wumm! und er könnte auch erst in neunzig Jahren eintreten, vielleicht sogar nie. Vielleicht wird er nie eintreten.
Denk mal an Kansas, LuAnn! Du kennst zwar nur Georgia, aber versuch mal nur einen Moment an Kansas zu denken. Meilenweit Kornfelder, der staubige Wind erhebt sich über den Plains. Aufzuwachsen in einer Stadt mit 953 Einwohnern. Unseren täglichen Tod gib uns he u te, Herr. Der Wind, der Staub, der Highway, die schm a len, scharfen Gesichter. Du willst ins Kino? Du fährst einen halben Tag bis Emporia. Du willst ein Buch ka u fen? Ich glaube, da mußt du bis nach Topeka fahren. Chinesische Küche? Pizza? Enchiladas? Jetzt aber mal halblang. Die Schule hat acht Klassen und neunzehn Schüler. Einen Lehrer. Er weiß nicht viel, er ist auch hier aufgewachsen; zu kränklich für die Farmarbeit, ist er halt Lehrer geworden. Der Staub, LuAnn. Das wogende Korn. Die langen Sommernachmittage. Sex. Sex ist kein Mysterium, LuAnn, er ist eine Notwendigkeit. Sobald man dreizehn ist, geht man hinter die Scheune oder an eine abgelegene Stelle am Fluß. Es ist das einzige Ve r gnügen, das es hier gibt. Und wir haben es alle betrieben. Christa zieht sich die Jeans herunter. Wie seltsam sie aussieht, zwischen ihren Beinen befindet sich nichts a u ßer blonden Löckchen . Jetzt zeig du mir deins, sagt sie. Hier, steig auf mich drauf. Ist das ein Abenteuer, LuAnn? Es ist kein Abenteuer. Du bist verzweifelt, also tust du es. Und sobald die Mädchen sechzehn werden, sind sie schwanger, und das Rad des Lebens dreht sich weiter. Es ist der Tod, LuAnn, der Tod, eingebettet im Leben. Ich gab mich damit nicht zufrieden. Ich mußte da raus. Nicht nach Wichita, nicht nach Kansas, nach Osten, wo die wirkliche Welt liegt, die Welt, die man abends im TV sieht. Weißt du, wie hart ich geschuftet habe, um aus Kansas rauszukommen? Geld gespart, um Bücher zu kaufen. Zweimal am Tag sechzig Meilen fahren, um zur High School und wieder zurück zu gelangen. Die ganze Geschichte von Abraham Lincoln, jawohl, denn ich lebte das einzige und unersetzliche Leben von Oliver Mar s hall; und ich konnte es mir nicht erlauben, es mit Far m arbeit zu verschwenden. Sehr gut, ein Stipendium an e i ner High School. Sehr gut, Durchschnittsnote 1 bei allen Prüfungen. Ich bin ein Aufsteiger, LuAnn, eine Flamme brennt in mir und zwingt mich ständig weiter und höher. Aber wozu? Wofür? Für dreißig oder vierzig ganz nette Jahre und dann das Ende? Nein. Nein, dagegen wehre ich mich.
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