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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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welche Wirkung die Zeit auf die Menschen hatte, die mir nahestanden. Asvek starb. Seine Frau starb. Häuptling Keglunek starb. Menschen in jungen und mittleren Jahren wurden Greise und starben. Ich hingegen alterte nicht und blieb, wie ich war, ein ausgereifter Riese, schlimm anzusehen, aber weder klapprig noch runzlig.
    Keriaks Eltern starben. Keriaks Bruder ertrank bei einem
    Unglück, an dem ein Umiak und eine launische Harpunenleine beteiligt waren. Robbenjäger und Lachsfischer, die mich
    damals aufgenommen und angelernt hatten, starben einer um
    den anderen an Unfällen, Krankheit oder Altersschwäche.
    Meine Immunität gegen die natürlichen Feinde des Menschen
    – meine unveränderte Jugendfrische trotz meiner Häßlichkeit –
    blieb nicht unbemerkt. Viele Ungpekmat, insbesondere die
    jüngeren, betrachteten mein Ausharren unter ihnen als
    unheimlich, vielleicht sogar als arglistig. Ich beobachtete mit Bestürzung, wie sie mir unvermeidlich ihr Vertrauen und ihre Zuneigung entzogen. Niemand behandelte mich schlecht oder
    befahl mir, das Dorf zu verlassen, doch ich begriff, daß die gute Beziehung zwischen mir und den fleißigen Ungpekmat zu Ende ging.
    Außerdem konnte ich die Kälte längst nicht mehr so gut
    vertragen wie früher; mit jedem Winter nahm das Eis in
    meinen Adern zu, büßte ich ein wenig mehr von meiner
    Fähigkeit ein, eigene Wärme zu erzeugen, wenn die Blizzards tobten und der Urin in den Sammeltrögen zu Bernstein
    erstarrte. Auf meinem Pfahlbett und unter dem Crescendo des eisigen Sturmwinds träumte mir von Sonnenschein,
    unbewegter See und dösenden Eidechsen. Für solche Bilder

    konnte ich mich erwärmen, auch wenn ich mich kaum noch an
    ihren Ursprung erinnerte.
    Eines Tages tauchte in unserem Dorf ein alter Mann auf, der sich Kesgulik nannte. Er war viele unwegsame Meilen mit dem Hundeschlitten gekommen, um mir etwas mitzuteilen.
    Schließlich fiel mir ein, daß er der Mann meiner früheren Frau Keriak war.
    Keriak, sagte er, sei gestorben.
    Untröstlich in seinem neu entfachten Schmerz, weinte er sich die Nachricht von der Seele, die mich mit dem schwellenden Gewicht einer Lawine traf. Ich wollte auch weinen – meinen Kopf an die gefrorene Erde schlagen, meine Kleider zerreißen wie Hebräer. Statt dessen suchte ich Kesgulik zu trösten, der, wohlwissend, daß ich Keriak unentwegt und so hingebungsvoll wie er geliebt hatte, den ganzen langen Weg hierher gereist war, um seinen Schmerz mit uns zu teilen.
    Daß mehr als fünfundvierzig Jahre vergangen sein sollten,
    seit ich hier in Ungpek mit Keriak zusammengewohnt hatte,
    das befremdete ihn. Ihr Erstgeborener war seit nahezu
    dreizehn Wintern verschollen, er war auf einer Eisscholle
    hinausgetrieben und nie wieder gesehen worden.
    Auch diese Nachricht traf mich, traf mich, als hätte ich ein Kind meiner Lenden verloren.

    Einen Monat später kehrte ich Ungpek den Rücken. Wenn ich
    nicht sterben konnte, dann hatte ich alle Welt und Zeit, das unverdünnte Elixier des Lebens zu trinken. Ich blieb nur
    einmal kurz stehen, dann lenkte ich meine Schritte nach Süden, hinaus aus den Nebeln Alaskas, wohin sie mich langsam aber unerbittlich tragen würden.

    32

    NACH DER LEKTÜRE VON JUMBOS Geschichte fiel es mir
    schwer, mich auf Baseball einzulassen. Ich tat es mit einem
    Kopfsprung, so kopflos wie jemand mit Geldsorgen, der von
    der Brücke springt, um einer Sache zu entfliehen, die ihm über den Kopf wächst. Ich spielte ziemlich gut in den nächsten zehn Spielen, doch an die Einzelheiten kann ich mich ohne Box-Score* nicht mehr erinnern. Am Nachmittag des zweiten
    Spiels gegen die Seminoles wollte ich Jumbo das Tagebuch
    zurückgeben. Fürs erste hatte ich das lausige Abschreiben satt.
    »Behalte es, Daniel.« Er legte mir das Tagebuch ins Pult.
    »Ich möchte, daß du so viel wie möglich über mich erfährst.«
    Ich schüttelte den Kopf, doch Jumbo stützte die
    Fingerknöchel auf die Pultklappe. Ich dachte aber: Ich will nichts mehr über dich erfahren, ich weiß schon viel zuviel.
    »Schreibe meine Memoiren weiter ab«, sagte Jumbo. »Nimm
    dir Zeit, die Saison ist noch nicht zu Ende.«
    Jumbo wollte mich nicht nur zum Freund, er brauchte auch
    einen Beichtvater. Ein Stummer und ein Priester hatten ja
    manches gemeinsam – zum Beispiel kann man beiden die
    schlimmsten Sachen erzählen, ohne daß sie gleich alles
    weiterplappern.
    Egal, wir schlugen Marble Springs an jenem Donnerstag, und
    am Freitagabend gab Jumbo mir wieder

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