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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Kenny gegenüber
    empfunden hatte – dem Kenny mit der gebrochenen Nase und
    den blutunterlaufenen, verquollenen Augen.
    »Gestern abend«, sagte Jumbo, »da war ich… ähm… nicht
    besonders freundlich.«
    Ah-ah. Ich zeigte auf mich, was heißen sollte, er habe sich
    mehr oder weniger okay aber ich mich wie ein Vollidiot benommen.
    Eine glatte Lüge.

    Denn er hatte sich zumindest genauso idiotisch benommen,
    indem er nämlich den ganzen Abend nicht mehr als drei Sätze
    gesagt und seine Bude so abgeteilt hatte wie ehedem die
    Kleinstadtärzte im Süden ihre Wartezimmer – eine Hälfte für
    Farbige, die andere für Weiße.
    »Ich habe das aufgehängt« – Jumbo winkte mit dem Kinn zur
    Matte, die er an die Wand gerafft hatte –, »weil ich annahm, du wärst lieber ein bißchen für dich allein als ganz ohne
    Sichtschutz.« Er zog eine Grimasse. Er schnitt eine Fratze.
    Und wie! Ein Krampf in Wangen- und Stirnmuskeln.
    »Verzeih mir. Ich rede selten. Der amerikanische Slang
    verwirrt mich. Alles, was ich sage, fußt auf dem geschriebenen Wort.« Er machte eine Geste, die sein Bücherregal meinte.
    »Ich habe eine Vorliebe für Philosophie, Wissenschaft,
    Religion und Medizin und für viktorianische Romane und
    aktuelle Ereignisse. Und meine Vorliebe beeinflußt

unvermeidlich meine Diktion.«
    Wau. Ein verbaler Brechdurchfall – jedenfalls für Jumbo. Er war verlegen. Er knetete seine Hände wie jemand, der Blut in
    die erfrorenen Fingerspitzen massieren will.
    »Du hast dich durch die Matte ausgeschlossen gefühlt, dabei
    wollte ich dir einen Gefallen tun.«
    Ich blieb natürlich stumm.
    »Wenn du für dich sein willst, dann zieh die Matte von der
    Wand. Wenn nicht, dann laß sie so.« Er sah mir in die Augen.
    »Bei bestimmten Gelegenheiten ziehe ich die Matte zu, egal, was du gerade möchtest. Betrachte das bitte nicht als ein
    Anzeichen von Groll oder Abneigung. Ich brauche manchmal
    die Einsamkeit.«
    Ich nickte. Okay. Verstanden.
    »Und du darfst die Matte zuziehen, wann immer du willst.
    Möchtest du sie jetzt zuziehen?«

    Eigentlich nein. Abgesehen von Dunnagins
    Beschwichtigungsversuchen in der Sommerlaube, hatte ich in
    Georgia noch keine Zwiesprache erlebt, die so lange gedauert
    hatte und die so vielversprechend war wie diese. Andererseits
    konnte ich nicht viel dazu beitragen. Ich wollte rasch zu
    meinem Feldbett, doch Jumbo hielt mich ein zweites Mal auf.
    »Du hast einen Knopf verloren«, sagte er. »Gib mir dein
    Hemd.«
    Ich knöpfte es auf, gab es ihm und setzte mich auf meine
    Liege. Jumbo holte Nadel und Faden und eine geschnitzte
    Elfenbeindose mit Knöpfen aus dem Regal und nähte mir
    binnen fünf Minuten den neuen Knopf an. Man hätte meinen
    sollen, die bratwurstgroßen Finger hätten ihm dabei zu
    schaffen gemacht, doch er hatte Routine und machte seine
    Sache rasch und gut.
    »Da«, sagte er und hielt mir das Hemd hin. Es wehte wie eine
    Fahne im Luftstrom des Ventilators, erschlaffte wie ein
    Windsack bei Flaute, dann tanzte es wieder auf. Als ich mir
    das Hemd holte, bemerkte ich die Furchen, Schwielen, Beulen
    und Narben an den Fingerenden. Die Fingerspitzen sahen tot
    aus, die Haut war weiß oder gelblich mit braunen oder rosarot
    glühenden Spiralen auf der Tastseite. Der lehmige,
    dattelpflaumige Geruch kam in Wellen. Aus der Nähe
    betrachtet, ähnelten die Augen geschälten Orangenscheiben
    mitsamt ihren zahllosen Membranen. Das war mein Ex-Freund
    Kenny Ward, wie er leibte und lebte.
    Am Boden neben dem Kopfende von Jumbos Bett stand ein
    Karton mit lauter alten – aber nicht zu dreckigen – Bällen. Die meisten Gebrauchtbälle landeten damals im sogenannten
    Baseball Equipment Fund der Streitkräfte, damit die hier und in Übersee stationierten Soldaten trainieren oder entspannen
    konnten. Das wußte selbst ich. Der Baseball Equipment Fund war eine wichtige patriotische Übereinkunft. Was erklärte,

    warum ich Jumbo gleich der Hamsterei verdächtigte. Aber was
    wollte er mit den Bällen? Das Team hatte genug Bälle, und
    keiner von diesen zerbeulten Prügelknaben sah aus, als könne
    man damit auch nur eine Vogelscheuche abtreffen, geschweige
    denn Wurf- oder Schlagtraining machen.
    Jumbo langte hinunter und griff sich einen Ball heraus. Er
    setzte die Fingernägel in die Naht und pellte die mehr oder
    weniger glänzende Hülle ab. Er warf den Balata-Kern in den
    Karton zurück und spreizte das Leder auf seinen Knien. Er rieb mit dem Daumen darüber, als gelte es, den

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