Brüchige Siege
Kenny gegenüber
empfunden hatte – dem Kenny mit der gebrochenen Nase und
den blutunterlaufenen, verquollenen Augen.
»Gestern abend«, sagte Jumbo, »da war ich… ähm… nicht
besonders freundlich.«
Ah-ah. Ich zeigte auf mich, was heißen sollte, er habe sich
mehr oder weniger okay aber ich mich wie ein Vollidiot benommen.
Eine glatte Lüge.
Denn er hatte sich zumindest genauso idiotisch benommen,
indem er nämlich den ganzen Abend nicht mehr als drei Sätze
gesagt und seine Bude so abgeteilt hatte wie ehedem die
Kleinstadtärzte im Süden ihre Wartezimmer – eine Hälfte für
Farbige, die andere für Weiße.
»Ich habe das aufgehängt« – Jumbo winkte mit dem Kinn zur
Matte, die er an die Wand gerafft hatte –, »weil ich annahm, du wärst lieber ein bißchen für dich allein als ganz ohne
Sichtschutz.« Er zog eine Grimasse. Er schnitt eine Fratze.
Und wie! Ein Krampf in Wangen- und Stirnmuskeln.
»Verzeih mir. Ich rede selten. Der amerikanische Slang
verwirrt mich. Alles, was ich sage, fußt auf dem geschriebenen Wort.« Er machte eine Geste, die sein Bücherregal meinte.
»Ich habe eine Vorliebe für Philosophie, Wissenschaft,
Religion und Medizin und für viktorianische Romane und
aktuelle Ereignisse. Und meine Vorliebe beeinflußt
unvermeidlich meine Diktion.«
Wau. Ein verbaler Brechdurchfall – jedenfalls für Jumbo. Er war verlegen. Er knetete seine Hände wie jemand, der Blut in
die erfrorenen Fingerspitzen massieren will.
»Du hast dich durch die Matte ausgeschlossen gefühlt, dabei
wollte ich dir einen Gefallen tun.«
Ich blieb natürlich stumm.
»Wenn du für dich sein willst, dann zieh die Matte von der
Wand. Wenn nicht, dann laß sie so.« Er sah mir in die Augen.
»Bei bestimmten Gelegenheiten ziehe ich die Matte zu, egal, was du gerade möchtest. Betrachte das bitte nicht als ein
Anzeichen von Groll oder Abneigung. Ich brauche manchmal
die Einsamkeit.«
Ich nickte. Okay. Verstanden.
»Und du darfst die Matte zuziehen, wann immer du willst.
Möchtest du sie jetzt zuziehen?«
Eigentlich nein. Abgesehen von Dunnagins
Beschwichtigungsversuchen in der Sommerlaube, hatte ich in
Georgia noch keine Zwiesprache erlebt, die so lange gedauert
hatte und die so vielversprechend war wie diese. Andererseits
konnte ich nicht viel dazu beitragen. Ich wollte rasch zu
meinem Feldbett, doch Jumbo hielt mich ein zweites Mal auf.
»Du hast einen Knopf verloren«, sagte er. »Gib mir dein
Hemd.«
Ich knöpfte es auf, gab es ihm und setzte mich auf meine
Liege. Jumbo holte Nadel und Faden und eine geschnitzte
Elfenbeindose mit Knöpfen aus dem Regal und nähte mir
binnen fünf Minuten den neuen Knopf an. Man hätte meinen
sollen, die bratwurstgroßen Finger hätten ihm dabei zu
schaffen gemacht, doch er hatte Routine und machte seine
Sache rasch und gut.
»Da«, sagte er und hielt mir das Hemd hin. Es wehte wie eine
Fahne im Luftstrom des Ventilators, erschlaffte wie ein
Windsack bei Flaute, dann tanzte es wieder auf. Als ich mir
das Hemd holte, bemerkte ich die Furchen, Schwielen, Beulen
und Narben an den Fingerenden. Die Fingerspitzen sahen tot
aus, die Haut war weiß oder gelblich mit braunen oder rosarot
glühenden Spiralen auf der Tastseite. Der lehmige,
dattelpflaumige Geruch kam in Wellen. Aus der Nähe
betrachtet, ähnelten die Augen geschälten Orangenscheiben
mitsamt ihren zahllosen Membranen. Das war mein Ex-Freund
Kenny Ward, wie er leibte und lebte.
Am Boden neben dem Kopfende von Jumbos Bett stand ein
Karton mit lauter alten – aber nicht zu dreckigen – Bällen. Die meisten Gebrauchtbälle landeten damals im sogenannten
Baseball Equipment Fund der Streitkräfte, damit die hier und in Übersee stationierten Soldaten trainieren oder entspannen
konnten. Das wußte selbst ich. Der Baseball Equipment Fund war eine wichtige patriotische Übereinkunft. Was erklärte,
warum ich Jumbo gleich der Hamsterei verdächtigte. Aber was
wollte er mit den Bällen? Das Team hatte genug Bälle, und
keiner von diesen zerbeulten Prügelknaben sah aus, als könne
man damit auch nur eine Vogelscheuche abtreffen, geschweige
denn Wurf- oder Schlagtraining machen.
Jumbo langte hinunter und griff sich einen Ball heraus. Er
setzte die Fingernägel in die Naht und pellte die mehr oder
weniger glänzende Hülle ab. Er warf den Balata-Kern in den
Karton zurück und spreizte das Leder auf seinen Knien. Er rieb mit dem Daumen darüber, als gelte es, den
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