Brunetti 04 - Vendetta
Venedig besser nicht wünschen konnte. Brunetti erschien dort ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit und wurde in einen Büroraum geführt, der so sichtlich von fleißiger Arbeit zeugte, daß er geradezu perfekt in das Klischee paßte, das sich ein cleverer junger Fernsehregisseur für eine Szene ausgedacht haben könnte, in der es um einen cleveren jungen Steuerberater geht. In dem offenen Raum von der Größe eines halben Tennisplatzes standen acht Schreibtische, alle mit Computerterminal und Bildschirm, jeder Arbeitsplatz abgetrennt durch eine hüfthohe, mit grünem Leinen bezogene spanische Wand. Fünf junge Männer und drei junge Frauen saßen vor den Bildschirmen; Brunetti fand es interessant, daß keiner auch nur den Kopf hob, als er auf dem Weg zu Lottos Büro im Schlepptau des Rezeptionisten an ihnen vorbeiging.
Dieser junge Mann blieb vor einer Tür stehen, klopfte zweimal, öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, und hielt die Tür für Brunetti auf, der beim Eintreten Lotto am anderen Ende des Zimmers vor einer hohen Vitrine stehen und etwas herausnehmen sah. Brunetti hörte hinter sich die Tür zugehen und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob der junge Mann mit hereingekommen war. Er war es nicht. Als er sich wieder umdrehte, war Lotto von der Vitrine zurückgetreten und hielt in der rechten Hand eine Flasche süßen Wermut, in der linken zwei kleine Gläser.
»Trinken Sie auch einen Schluck, Commissario?« fragte er. »Ich genehmige mir um diese Zeit immer einen.«
»Danke, gern«, sagte Brunetti, der süße Drinks verabscheute. »Den kann ich gut gebrauchen.« Er lächelte, und Lotto winkte ihn auf die andere Seite des Büros, wo zwei Sessel standen, dazwischen ein niedriges Tischchen mit dünnen Beinen.
Lotto goß die Gläser großzügig voll und trug sie durchs Zimmer. Brunetti nahm eines, dankte und wartete, bis sein Gastgeber die Flasche zwischen ihnen auf dem Tisch abgestellt und Platz genommen hatte, bevor er das Glas hob, sein freundlichstes Lächeln aufsetzte und »cin, cin« sagte. Die süße Flüssigkeit glitschte ihm über die Zunge und durch die Kehle und hinterließ einen dicken Schleim. Der Alkohol wurde von der klebrigen Süße totgeschlagen: Das Ganze schmeckte wie After-shave gesüßt mit Aprikosennektar.
Obwohl man aus den Fenstern des Zimmers nur die Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes sah, sagte Brunetti: »Kompliment für Ihr Büro. Sehr schön.«
Lotto schwenkte abwehrend sein Glas. »Danke, Dottore. Wir versuchen eine Atmosphäre zu schaffen, die unseren Klienten das Gefühl gibt, daß sie sich bei uns in guten Händen befinden und wir ihre Interessen zu wahren verstehen.«
»Das stelle ich mir schwierig vor«, meinte Brunetti.
Ein Schatten legte sich über Lottos Gesicht, verschwand aber gleich wieder und nahm einen Teil seines Lächelns mit sich fort. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz, Commissario.«
Brunetti versuchte ein verlegenes Gesicht zu machen: ein nicht sehr sprachgewandter Mensch, der sich wieder einmal schlecht ausgedrückt hatte. »Ich meine wegen der neuen Gesetze, Signor Lotto. Es ist sicher sehr schwer, sie zu verstehen oder richtig anzuwenden. Seit die neue Regierung alle diese Änderungen erlassen hat, gibt mein eigener Steuerberater zu, daß er nicht immer weiß, was er zu tun hat, ja nicht einmal, wie die Formulare auszufüllen sind.«
Brunetti nahm einen Schluck von seinem Drink, aber nur einen winzigen, man hätte es sogar als ein bescheidenes Nippen bezeichnen können, und fuhr fort: »Natürlich sind meine Finanzen kaum so kompliziert, daß da irgendwelche Unklarheiten entstehen könnten, aber wahrscheinlich haben Sie viele Klienten, deren Angelegenheiten einen Experten erfordern.« Wieder ein kleines Schlückchen. »Ich verstehe natürlich nichts von diesen Dingen«, sagte er und gestattete sich einen Blick zu Lotto hinüber, der anscheinend aufmerksam zuhörte. »Deswegen habe ich um diese Unterredung gebeten, weil ich sehen möchte, ob Sie mir über Avvocato Trevisans Finanzen etwas sagen können, was Sie für wichtig halten. Sie waren ja sein Steuerberater, nicht wahr? Auch sein Geschäftsführer?«
»Ja«, antwortete Lotto knapp, bevor er in neutralem Ton fragte: »An was für Informationen dachten Sie?«
Brunetti lächelte und machte eine Handbewegung, als wollte er seine Finger wegwerfen. »Das ist es ja, wovon ich nichts verstehe und weshalb ich hier bin. Da Avvocato Trevisan Ihnen seine
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