Brunetti 04 - Vendetta
damit?«
»Nachdem der amtliche Autopsiebericht raus ist, werden sie noch ein Jahr aufgehoben und dann vernichtet.«
»Und diesmal?«
»Als er den amtlichen Bericht bekam, wollte er gleich seine Aufzeichnungen nachprüfen, ob er sich vielleicht geirrt hätte. Dann hat er mich angerufen.« Della Corte machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Das war vor zwei Tagen. Inzwischen hat er wieder angerufen und mir erklärt, er müsse sich bei seinen Ergebnissen wohl geirrt haben.«
»Druck von oben?«
»Natürlich«, antwortete della Corte grimmig.
»Haben Sie etwas gesagt?«
»Nein. Mir hatte gleich nicht gefallen, was er mir bei unserem zweiten Gespräch über seine Aufzeichnungen sagte. Ich habe mich also seiner Aussage angeschlossen, daß so etwas vorkommt, auch ein bißchen mit ihm geschimpft, weil ihm dieser Fehler unterlaufen war, und ihm empfohlen, bei seiner nächsten Autopsie etwas achtsamer zu sein.«
»Hat er Ihnen das abgenommen?«
Della Cortes Achselzucken war förmlich zu hören. »Wer weiß?«
»Und dann?« fragte Brunetti.
»Dann habe ich Fosco angerufen, um mich über Sie zu informieren.« Brunetti hörte plötzlich seltsame Geräusche in der Leitung und überlegte sofort, ob seine eigene Leitung womöglich abgehört wurde, doch das Klicken und Piepen erklärte sich bald: Della Corte warf Münzen nach.
»Commissario«, sagte della Corte, »ich habe nicht mehr viel Kleingeld. Könnten wir uns nicht irgendwo treffen?«
»Natürlich. Inoffiziell?«
»Aufjeden Fall.«
»Wo?« fragte Brunetti.
»Auf halbem Weg?« schlug della Corte vor. »Mestre?«
»Die Pinetta-Bar?«
»Heute abend, zehn Uhr?«
»Wie erkenne ich Sie?« fragte Brunetti, der hoffte, della Corte möge nicht schon von weitem wie ein Polizist aussehen.
»Ich habe eine Glatze. Und wie erkenne ich Sie?« »Ich sehe aus wie ein Polizist.«
16
Am Abend ging Brunetti um zehn vor zehn die Stufen des Bahnhofs von Mestre hinunter, nachdem er zuvor auf dem Stadtplan im Telefonbuch von Venedig die Via Fagare gefunden hatte. Vor dem Bahnhof stand der übliche Pulk von Autos im Parkverbot, und es herrschte mäßiger Verkehr in beiden Richtungen. Er überquerte die Straße und wandte sich nach links. An der zweiten Querstraße bog er rechts in Richtung Stadtzentrum ab. Auf beiden Straßenseiten waren die Gitter der kleinen Läden heruntergelassen wie Fallgitter gegen eventuelle nächtliche Invasionen.
Hin und wieder wirbelte eine Windböe das Papier und die Blätter zu seinen Füßen auf und ließ sie träge kreisen; die ungewohnten Verkehrsgeräusche irritierten ihn wie immer, wenn er ihnen außerhalb Venedigs ausgesetzt war. Alle Leute klagten über das feuchtwarme, unzuträgliche Klima in Venedig, aber für Brunetti war betäubender Verkehrslärm viel schlimmer, und wenn dazu noch der scheußliche Auspuffgestank kam, wunderte er sich, wie Menschen mitten darin leben und es als Teil ihres Alltags akzeptieren konnten. Dennoch verließen Jahr für Jahr mehr Venezianer die Stadt und zogen hierher, durch die allgemeine Wirtschaftsflaute und die explodierenden Mieten in die Flucht geschlagen. Er konnte verstehen, daß so etwas passierte, daß ökonomische Gründe die Menschen aus ihrer Stadt vertrieben. Aber im Tausch gegen dies hier? Sicher ein schlechtes Geschäft.
Einige Minuten später kam am Ende des nächsten Häuserblocks eine Neonschrift in Sicht. Die Buchstaben reichten von der Dachkante bis etwa mannshoch über den Gehweg und lauteten: ›B_in_ta‹. Mit den Händen in den Manteltaschen und der Schulter voraus schlüpfte Brunetti in die Bar, ohne die Tür groß aufstoßen zu müssen.
Der Besitzer mußte zu viele amerikanische Filme gesehen haben, denn das Innere ähnelte den Bars, in denen Victor Mature immer den Kraftprotz markierte. Die Wand hinter dem Tresen bestand aus einem Spiegel, der allerdings von einer so dicken Schicht aus Staub und Tabakrauch überzogen war, daß nichts mehr deutlich reflektiert wurde. Statt der vielen Flaschenreihen, die man in italienischen Bars gewohnt ist, stand hier nur eine, alles Bourbon und Scotch. Statt des geraden Tresens mit der Espresso-Maschine war dieser hier hufeisenförmig, und in der Mitte stand ein Barmann in einer ehemals weißen Schürze, die er sich eng um die Taille gebunden hatte.
Zu beiden Seiten standen Tische; links saßen, jeweils zu dritt oder viert, kartenspielende Männer; auf der rechten Seite waren es gemischte Paare, eindeutig mit Glücksspielen anderer Art
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