Brunetti 04 - Vendetta
»Kann ich gehen?«
»Selbstverständlich«, sagte Brunetti, und wie zum Beweis seines guten Glaubens ging er zur Tür und hielt sie dem Anwalt auf. Man verabschiedete sich, und Martucci ging. Brunetti und Vianello warteten noch ein paar Minuten, dann verließen auch sie das Gebäude und fuhren nach Venedig zurück.
Als das Polizeiboot sie am Landesteg vor der Questura absetzte, waren Brunetti und Vianello sich einig, daß Martucci zwar auf die Frage nach Signora Trevisan offenbar vorbereitet gewesen war und gelassen darauf reagiert hatte, aber die Fragen nach ihrem verstorbenen Mann und der Teilhaberschaft ihn sichtlich nervös gemacht hatten. Vianello arbeitete schon so lange unter Brunetti, daß er keiner Anweisung mehr bedurfte, um die üblichen Überprüfungen vorzunehmen - Nachbarn, Freunde, Ehefrau - und zu sehen, ob es von irgendwoher eine Bestätigung für Martuccis Behauptung gab, er sei in der letzten Nacht zu Hause gewesen. Die Autopsie war noch nicht vorgenommen worden, und wegen der Hitze im Wagen und ihrer Auswirkungen auf die Leiche würde es schwierig sein, die genaue Todeszeit zu bestimmen.
Als sie durch die geräumige Eingangshalle der Questura gingen, blieb Brunetti plötzlich wie angewurzelt stehen und drehte sich zu Vianello um. »Der Benzintank«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Der Tank. Lassen Sie nachmessen, wieviel Benzin noch darin ist, und versuchen Sie dann, wenn es geht, herauszukriegen, wann er zuletzt getankt hat. Das könnte uns eine gewisse Vorstellung davon geben, wie lange der Motor gelaufen ist. Danach könnte man vielleicht ausrechnen, wann er erschossen wurde.«
Vianello nickte. Es würde den Zeitraum vielleicht nicht sehr einengen, aber wenn die Autopsie keinen klaren Hinweis auf die Todeszeit erbrachte, konnte es doch hilfreich sein. Auch wenn es im Moment keine zwingende Notwendigkeit gab, sich der genauen Todeszeit zu versichern.
Vianello machte sich an die Arbeit, und Brunetti ging zu seinem Büro hinauf. Noch auf der Treppe begegnete er Signorina Elettra, die aus dem Korridor kam und nach unten wollte.
»Ah, da sind Sie ja, Commissario. Der Vice-Questore hat nach Ihnen gefragt.«
Brunetti blieb stehen und sah zu ihr auf, wie sie ihm die Treppe hinunter entgegenkam. Ein langer Chiffonschal, zart wie Spinnenfäden, schwebte hinter ihr her, emporgeweht von der durchs Treppenhaus aufsteigenden warmen Luft. Wäre die Nike von Samothrake von ihrem Sockel gestiegen, hätte ihren Kopf wiederbekommen und wäre so die Stufen des Louvre herabgekommen, sie müßte so ähnlich ausgesehen haben.
»Hmm?« machte Brunetti fragend, als sie auf gleicher Höhe waren.
»Der Vice-Questore, Commissario. Er sagt, er möchte Sie sehr gern sprechen.«
»Möchte, sehr gern«, wiederholte Brunetti unwillkürlich, beeindruckt von der Wortwahl. Paola amüsierte sich oft über eine Dickens-Figur, die Unheil immer mit den Worten ankündigte, der Wind komme aus einer bestimmten Richtung; Brunetti vergaß immer, welche Figur das war, oder welche Richtung, aber er wußte, wenn Patta ihn ›sehr gern sprechen‹ wollte, konnte man durchaus sagen, daß der Wind aus ebendieser Richtung wehte.
»Ist er in seinem Büro?« fragte Brunetti, indem er kehrtmachte und neben der jungen Frau die Treppe wieder hinunterging.
»Ja. Und er war den halben Vormittag am Telefon.« Auch das war oft Vorbote eines drohenden Gewitters.
»Avanti«, rief Vice-Questore Patta auf Brunettis Klopfen. »Guten Morgen, Brunetti«, sagte er, als sein Untergebener eintrat. »Nehmen Sie bitte Platz. Ich möchte ein paar Dinge mit Ihnen besprechen.« Drei höfliche Sätze von Patta, noch ehe er saß, das machte Brunetti hellhörig.
Er ging durchs Zimmer und setzte sich auf seinen üblichen Platz. »Ja, Vice-Questore?« Dabei zückte Brunetti bereits sein Notizbuch, womit er Patta zu demonstrieren hoffte, wie ernst er diese Unterredung nahm.
»Ich möchte gern von Ihnen hören, was Sie über den Tod Rino Faveros wissen.«
»Favero, Vice-Questore?«
»Ja, ein Steuerberater aus Padua, der letzte Woche tot in seiner Garage gefunden wurde.« Patta machte eine Kunstpause, gerade so lang, daß sie für seine Begriffe wohl inhaltsschwer wirkte, und fügte dann hinzu: »Selbstmord.«
»Ach ja, Favero. Man hat mir mitgeteilt, daß er Carlo Trevisans Telefonnummer in seinem Adreßbuch hatte.«
»Ich bin sicher, daß er viele Telefonnummern in seinem Adreßbuch hatte«, versetzte Patta.
»Trevisans Nummer stand dort ohne
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