Brunetti 07 - Nobiltà
einer Pause hinzu: »Aber es war fast so, als wäre er nicht da.«
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Brunetti.
»Er schien unsichtbar. Nein, das meine ich nicht. Er war dünner geworden, und mir fiel auf, dass sein Haar schon schütter wurde. Es war Spätsommer, aber er sah aus, als wäre er seit dem Winter nicht ins Freie gekommen. Dabei kannte ich ihn als einen Jungen, der immer am Strand oder auf dem Tennisplatz war.«
Der Conte sah an Brunetti vorbei in die Ferne, als er sich den Abend ins Gedächtnis rief. »Ich habe nicht mit ihm gesprochen, und seinen Eltern gegenüber wollte ich es nicht erwähnen. Aber er sah merkwürdig aus.«
»Krank?«
»Nein, das nicht, jedenfalls nicht direkt krank. Nur sehr blass und dünn, als hätte er eine Diätkur gemacht, und das zu lange.«
Als wäre sie gerufen worden, um dem ganzen Gerede über Abmagerungskuren ein Ende zu machen, erschien genau in diesem Augenblick Valeria und brachte zwei Teller, vollgehäuft mit Spaghetti und gekrönt von Unmengen kleiner Muscheln in ihren Schalen. Der Duft von öl und Knoblauch wehte ihr verheißungsvoll voraus.
Brunetti stach seine Gabel in den Spaghettiberg und begann zu drehen. Als er genug aufgegabelt zu haben glaubte, hob er die Spaghetti zum Mund, angeregt von der Wärme und dem durchdringenden Knoblauchdunst. Kauend nickte er dem Conte zu, der lächelte und sich seinem eigenen Teller widmete.
Erst als Brunetti seine Pasta schon fast aufgegessen hatte und dabei war, die Muscheln zu öffnen, fragte er den Conte: »Und was ist mit dem Neffen?«
»Wie ich gehört habe, soll er der geborene Geschäftsmann sein. Er hat die richtige Portion Charme für den Umgang mit den Kunden und den Verstand, vernünftig zu kalkulieren und die richtigen Leute einzustellen.«
»Wie alt ist er?« erkundigte sich Brunetti.
»Zwei Jahre älter als Roberto, demnach also um die fünfundzwanzig.«
»Weißt du sonst noch etwas über ihn?«
»Was zum Beispiel?«
»Alles, was dir so einfällt.«
»Das ist sehr allgemein.« Bevor Brunetti jedoch erklären konnte, was er meinte, fragte der Conte: »Du meinst etwas, woraus man schließen könnte, ob er das vielleicht getan hat? Falls es eine Tat war.«
Brunetti nickte und beschäftigte sich weiter mit seinen Muscheln.
»Sein Vater, Ludovicos jüngerer Bruder, ist gestorben, als Maurizio vielleicht acht Jahre alt war. Seine Eltern waren da schon geschieden, und die Mutter wollte von dem Jungen offenbar nichts wissen, denn als sich die Gelegenheit bot, übergab sie ihn Ludovico und Cornelia, die ihn aufgezogen haben; er könnte genauso gut Robertos Bruder sein.«
Brunetti musste an Kain und Abel denken und fragte; »Weißt du das, oder hat man so etwas zu dir gesagt?«
»Beides«, war die knappe Antwort des Conte. »Ich halte es aber eher für unwahrscheinlich, dass Maurizio da irgendwie die Finger v drin hatte.«
Brunetti zuckte die Achseln und warf die letzte Muschelschale auf den Berg, der sich auf seinem Teller türmte, »ich weiß noch nicht einmal, ob es der junge Lorenzoni ist.«
»Warum dann alle diese Fragen?«
»Ich sagte ja schon: Zwei Leute hielten die Entführung für einen Streich oder für vorgetäuscht. Außerdem wurde der Stein, der das Eingangstor blockierte, von innen hingelegt.«
»Die könnten über die Mauer geklettert sein«, meinte der Conte.
Brunetti nickte. »Schon möglich. Aber ich habe bei der ganzen Geschichte ein dummes Gefühl.«
Der Conte warf ihm einen neugierigen Blick zu, als könnte er seinen Schwiegersohn nicht recht mit Intuition in Verbindung bringen. »Abgesehen von dem, was du mir erzählt hast, was kommt dir noch alles komisch vor?«
»Dass dieser Aussage, man habe an einen Streich gedacht, niemand nachgegangen ist. Dass es von der Vernehmung des Vetters kein Protokoll gibt. Und der Stein: Keiner hat weiter danach gefragt.«
Der Conte legte seine Gabel auf die restlichen Spaghetti, die er noch auf dem Teller hatte, da kam schon Valeria, um abzuräumen. »Haben Ihnen die Spaghetti nicht geschmeckt, Signor Conte?«
»Sie waren köstlich, Valeria, aber ich brauche noch etwas Platz für den Steinbutt.«
Sie nickte und nahm zuerst seinen Teller, dann Brunettis. Der Conte schenkte ihnen gerade Wein nach, als sie wieder kam. Brunetti stellte befriedigt fest, dass er recht gehabt hatte mit dem Seeteufel. Er war mit kleinen Rosmarinzweigen und einem Radieschen garniert.
»Warum macht man so etwas mit Lebensmitteln?« fragte er, wobei er l mit dem Kinn
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