Brunetti 09 - Feine Freunde
Unaufrichtigen. Warum war er nach dem amtlichen Brief persönlich zu Brunetti gekommen? Bis zu seinem späteren Anruf hatte er dann Brunettis Stellung erfahren. Einen Augenblick lang spielte Brunetti mit der Idee, daß Rossi ursprünglich mit der Absicht gekommen war, sich bestechen zu lassen, doch verwarf er den Gedanken wieder: Der Mann hatte einfach ein viel zu ehrliches Gesicht gehabt.
Nachdem er erfahren hatte, daß dieser Signor Brunetti, der die Baupläne zu seiner Wohnung nicht finden konnte, ein hoher Polizeibeamter war - hatte Rossi da seine Angelschnur in den Strom der Gerüchte geworfen, um zu sehen, was er über Brunetti herausfischen konnte? Ohne diese Vorsichtsmaßnahme würde niemand es wagen, eine heikle Angelegenheit weiterzuverfolgen; das Geheimnis bestand darin, zu wissen, wen man fragen konnte, wo man den Haken ins Wasser lassen mußte, um die Informationen, die man brauchte, an Land zu ziehen. Und hatte das, was seine Gewährsleute ihm über Brunetti berichtet hatten, ihn dazu bewogen, sich mit dem, was er im Ufficio Catasto entdeckt hatte, an ihn zu wenden?
Illegale Baugenehmigungen und die Schmiergelder, die man damit verdienen konnte, daß man sie erteilte, waren ein unbedeutender Posten im großen Korruptionsangebot der Bürokratie. Brunetti konnte sich nicht vorstellen, daß jemand viel riskieren würde, schon gar nicht sein Leben, indem er drohte, irgendeinen schlauen Plan zur Plünderung öffentlicher Kassen auffliegen zu lassen. Die Computerzentralisierung der Akten, bei der man unbequeme Unterlagen gezielt verschwinden lassen konnte, erhöhte zwar den Einsatz, aber Brunetti glaubte nicht, daß dies allein schon Rossi das Leben gekostet hatte.
Signorina Elettra, die, ohne anzuklopfen, in sein Zimmer trat, riß ihn aus seinen Überlegungen. »Störe ich, Commissario?«
»Ganz und gar nicht: Ich sitze hier nur und mache mir Gedanken über Korruption.«
»Öffentliche oder private?«
»Öffentliche«, sagte er, wobei er die Füße von der Schublade nahm und sich wieder gerade hinsetzte.
»Das ist, wie wenn man Proust liest«, sagte sie mit todernster Miene. »Man denkt, man ist damit durch, aber dann entdeckt man, daß da noch ein Band ist. Und noch einer und noch einer.«
Brunetti sah zu ihr auf und wartete auf mehr, aber sie sagte dann nur noch, während sie ein paar Papiere auf seinen Schreibtisch legte: »Ich habe gelernt, dem Zufall ebenso zu mißtrauen wie Sie, Commissario, darum möchte ich Sie bitten, sich einmal die Namen der Besitzer dieses Hauses anzusehen.«
»Die Volpatos?« fragte er, denn irgendwie wußte er schon, daß es sonst niemand sein konnte.
»Richtig.«
»Wie lange schon?«
Sie beugte sich über den Schreibtisch und zog das dritte Blatt unter den anderen hervor. »Seit vier Jahren. Sie haben es von einer Matilde Ponzi gekauft. Der gemeldete Preis steht hier«, sagte sie, wobei sie auf eine Zahl am rechten Blattrand zeigte.
»Zweihundertfünfzig Millionen Lire?« Brunetti konnte seine Verwunderung nicht verbergen. »Das Haus hat vier Geschosse und auf jedem Geschoß mindestens hundertfünfzig Quadratmeter.«
»Das ist ja auch nur der gemeldete Preis, Commissario«, sagte Signorina Elettra. Jeder wußte, daß der auf der Verkaufsurkunde angegebene Preis eines Hauses aus Gründen der Steuerersparnis nie etwas mit dem wirklich bezahlten Preis zu tun hatte oder, wenn doch, dann irgendwie verschleiert, wie durch ein Verdunkelungsglas: Der wahre Preis betrug dann irgend etwas zwischen dem Zwei- und Dreifachen. Die natürliche Folge war, daß alle Welt von einem »wahren« und einem »gemeldeten« Preis sprach, und nur Dummköpfe oder Ausländer glaubten, sie wären dasselbe.
»Das weiß ich«, sagte Brunetti, »aber selbst wenn sie in Wirklichkeit das Dreifache bezahlt hätten, wäre es immer noch ein Schnäppchen gewesen.«
»Wenn Sie sich einmal ihre anderen ›Erwerbungen‹ ansehen«, sagte Signorina Elettra mit einer gewissen Bitterkeit auf dem Hauptwort, »werden Sie feststellen, daß sie bei fast allen ihren Geschäften ähnliches Glück hatten.«
Er blätterte zur ersten Seite zurück. Wie es aussah, hatten die Volpatos oft Häuser gefunden, die sehr wenig kosteten. Weitblickend hatte Signorina Elettra neben jede Erwerbung die Quadratmeterzahl gesetzt, und ein rascher Überschlag sagte Brunetti, daß die Volpatos im Schnitt einen gemeldeten Preis von unter einer Million Lire pro Quadratmeter bezahlt hatten. Selbst wenn man die Variablen
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