Bruno Chef de police
sie sein, wenn der Mann, der als Kriegsheld geehrt wurde und sich mit seiner Familie in Frankreich heimisch gefühlt hatte, als ein Wolf im Schafspelz überführt würde? Könnte die Familie überhaupt in Saint-Denis bleiben? Und wie würden die übrigen Nordafrikaner in der Stadt auf eine solche Enthüllung reagieren? Stünde nicht außerdem zu befürchten, dass dem
Front National
Hunderte neuer Wähler zuliefen?
Bruno stützte seinen Kopf in beide Hände, biss sich auf die Lippen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste mit dem Bürgermeister reden, Jean-Jacques und Isabelle einweihen, die Fahrt nach Bordeaux planen, mit Christine sprechen und Rat darüber einholen, wie er die Stadt auf eine solch schreckliche Nachricht vorbereiten könnte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Pamela von der Schwelle des Wohnzimmers her. »Christine hat mich vorgewarnt, dass Sie womöglich einen doppelten Schnaps nötig haben würden. Das scheint mir in der Tat so. Sie sind ja kreidebleich. Hier, trinken Sie einen Whisky! Es ist nicht der Lagavulin, den Sie unlängst bei mir probiert haben, sondern ganz einfacher Whisky. Sie können also ordentlich zulangen.«
»Danke, Pamela«, sagte Bruno und leerte das ihm gereichte Glas mit einem Schluck. Obwohl ihm die Kehle höllisch brannte, fühlte er sich gleich darauf schon viel besser. »Nochmals danke. Nach der schrecklichen Lektüre, die mich in grauenvolle Zeiten zurückversetzt hat, tut es mir besonders gut, in Ihrem Haus zur angenehmen Gegenwart zurückzukehren.«
»Von Christine weiß ich, dass die Texte irgendwie mit dem Mord an Hamid in Zusammenhang stehen. Genaueres aber hat sie mir nicht verraten. Jedenfalls scheint es, als hätte uns die Vergangenheit wieder einmal eingeholt.«
»Ja, so ist es. Die Vergangenheit ist nie wirklich vergangen und vielleicht sogar heute noch tödlich. Tja, jetzt habe ich alles, was ich brauche, und werde Sie in Ruhe lassen. Ich muss schnellstens zurück an die Arbeit.«
»Sind Sie sicher, Bruno? Wie wär's mit einem kleinen Imbiss?«
Bruno schüttelte den Kopf. Er steckte die Bücher ein, verabschiedete sich und blickte mit neuen Augen auf diese vermeintlich so friedliche Landschaft, über der vor nur gut sechs Jahrzehnten der Rauch von gebrandschatzten Bauernhöfen aufgestiegen war. Er dachte an die ermordeten Väter und an französische Polizisten, die arabische Söldner in schwarzen Uniformen, geschützt von Militärkolonnen, auf den Weg geschickt hatten - mit dem Freibrief, zu vergewaltigen, zu rauben und zu plündern, während halbverhungerte und spärlich bewaffnete junge Franzosen in den Bergen hilflos mit ansehen mussten, wie ihre Familien und Höfe der Vergeltungswut des Feindes zum Opfer fielen. Armes Frankreich, dachteer. Armes Périgord. Armer Momu.
Und wie sollte er denen begegnen, die nach so langer Zeit Rache an ihren Peinigern genommen hatten? Immerhin wusste er nun, warum ein Hakenkreuz auf Hamids Brust geritzt worden war. Es stand nicht für die politische Gesinnung der Mörder, sondern für die wahre Identität des Opfers.
Zurück in Saint-Denis, machte sich Bruno sofort auf den Weg zum Bürgermeister, der am Stadtrand wohnte. Er zeigte ihm Christines Bücher und das Foto des jungen Boudiaf an der Seite von Villanova und erklärte, warum er nun überzeugt davon sei, dass der ermordete arabische Kriegsheld Mitglied der
Force mobile
gewesen sei. Der Bürgermeister ließ sich schnell überzeugen und pflichtete Bruno bei, der es für unerlässlich hielt, den Verdacht mit lückenlosem Beweismaterial zu erhärten. Sie nahmen am Tisch Platz und stellten aus dem Gedächtnis eine vorläufige Liste derjenigen Familien zusammen, die in Verbindung mit der Résistance gestanden hatten und in Saint-Denis oder in seiner Umgebung lebten. Vervollständigen wollten sie diese Liste am nächsten Tag mit Hilfe der Aufzeichnungen der
Compagnons de la Résistance
in Paris.
»Die Polizei wird also jetzt bei uns in der Stadt nach all denen suchen, die von Hamids Mitgliedschaft bei der
Force mobile
wussten. Wie um Himmels willen können wir verhindern, dass uns die Sache über den Kopf wächst, Bruno?«
»Keine Ahnung, aber ich hoffe, mir fällt noch was ein. Die Kollegen werden wohl zuerst die Älteren befragen, diejenigen, die Hamid wiedererkannt haben könnten. Die Nachforschungen werden sich womöglich über Wochen hinziehen und jede Menge Polizeikräfte, die Medien und nicht zuletzt auch die Politik auf den Plan
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