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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Feuer erst mal fernzubleiben. Der Herr Baron läßt sich beim Singen nicht gern stören. Wir können ja von hier aus zuhören. Was du nicht verstehst, erkläre ich dir.«
    Ich hatte nichts dagegen und ließ mich, wo ich gerade stand, im Schneidersitz nieder.
    Tatsächlich ging beim Lagerfeuer drüben Seltsames vor sich. Die Kosaken in ihren gelben Mützen scharten sich im Halbkreis um den Baron, der, ganz Chorregent, vor ihnen stand, die Hände hob, und schon tönte der Gesang wackerer Männerstimmen:
    Hoi, was war das ein böser Abend,
Lang lag ich wach, fand keinen Schlaf …
    »Ach, ›Stepan Rasins Traum‹. Wie ich dieses Lied liebe«, sagte ich.
    »Was denn, Herr, du liebst das Lied, ohne es je zuvor gehört zu haben?« fragte Ignat, der sich neben mich setzte.
    »Wieso soll ich es nicht gehört haben? Ist doch ein altes Kosakenlied.«
    »Nein, das verwechselst du. Das Lied hat der Herr Baron extra für uns geschrieben, damit wir was zum Singen und drüber Nachdenken haben. Und damit es sich leichter merkt, ist der Text derselbe wie bei dem Lied, das du meinst. Die Musik übrigens auch.«
    »Was ist denn dann sein Anteil an dem Lied?« fragte ich. »Ich meine, wie läßt sich das frühere Lied von dem unterscheiden das der Herr Baron geschrieben hat, wenn Text und Melodie gleich sind?«
    »Bei dem Lied vom Herrn Baron ist der Sinn ein ganz anderer. Paß auf, ich erklär's dir.
    Lang lag ich wach, fand keinen Schlaf,
Zählte im Traum so manches Schaf
    – hast du gehört? Verstehst du, wie's gemeint ist? Schlafen hast du nicht gekonnt, geträumt anscheinend trotzdem und im Traum die Schafe gezählt. Macht also keinen Unterschied, ob du schläfst oder nicht, geträumt wird immer.«
    »Alles klar. Und weiter?«
    Ignat wartete die nächste Strophe ab.
    »Da, hörst du:
    Als ich im Traum beim Schafezählen war,
flog eine Krähe dicht vorbei.
Schreckte mein Pferd, das mit mir durchging.
Los ging die wilde Raserei!
    Das ist ja nun eine ganz tiefe Weisheit. Du bist ein gebildeter Mann, da weißt du wahrscheinlich, daß es in Indien mal so ein altes Buch gab: ›Uups-kann-nich-schaden‹ oder so.«
    »Ich weiß«, antwortete ich, wobei mir sofort das letzte Gespräch mit Kotowski wieder einfiel.
    »Da steht geschrieben, daß es mit dem Geist vom Menschen ist wie beim Kosaken mit dem Pferd. Er bringt uns vom Fleck.
    Aber der Herr Baron sagt, daß es heutzutage bei den Menschen anders langgeht. Keiner versteht mehr sein Pferd zu führen, drum sticht es sozusagen der Hafer, und der Reiter hat es nicht mehr an der Kandare, es reitet, wohin es will. Und der Reiter hat schon vergessen, daß er mal ein anderes Ziel gehabt hat. Wohin's dem Pferd einfällt, dorthin geht die wilde Jagd. Der Herr Baron hat uns versprochen, daß er ein spezielles Buch zu dem Thema mitbringen will, es heißt ›Reiter ohne Kopf‹ – da soll's anhand von einem Beispiel darum gehen. Er vergißt es bloß immer. Man hat so schrecklich viel im Kopf. Da kann einer schon froh sein, wenn …«
    »Was ist mit dem Rest?« fiel ich ihm ins Wort. »Dem Rest? Ach, dem Rest …
    Rittmeister Ungarn ist ein kluger Mann.
Hat mir den Traum sogleich erklärt.
Bald wirst, Kosak du, deinen Kopf verliern.
Und ohne Reiter bleibt dein Pferd.
    Das mit dem Rittmeister ist natürlich klar, da hat der Herr Baron sich selber gemeint, der ist ja auch wirklich gescheit. Und was den Kopf angeht, das steht so in Uups-kann-nich-schaden. Wenn der Verstand mit einem durchgeht, ohne zu wissen, wohin, dann geht er natürlich verloren, soviel ist mal klar. Aber da gibt es noch eine andre feine Deutung, die hat mir neulich der Herr Baron höchstpersönlich ins Ohr geflüstert. Die geht so, daß man im Grunde die ganze Menschenweisheit hernehmen und vergessen kann, einfach hinter sich lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat der Herr Baron gesagt, alles nicht die Bohne wert und an der Hauptsache vorbei. Und deswegen heißt es in dem Lied nicht, daß man selber verlorengeht, sondern bloß der Kopf, und der ist sowieso hinüber.«
    Ignat stemmte nachdenklich die Hand unter das Kinn und vertiefte sich schweigend in den Schluß des Gesangs.
    Hoi, wie die bösen, bösen Winde wehn
Sturm bläst vom Osten in das Land
Reißt mir die Mütze von den Haaren
Ich halt den Kopf in meiner Hand.
    Eine Weile wartete ich auf einen Kommentar, doch vergeblich. Da brach ich selbst das Schweigen.
    »Sturm vom Osten, das verstehe ich noch«, sagte ich. » Ex Oriente lux , wie es so schön heißt. Aber was

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