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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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dem ich stand, machte ganz weit vorn einen Knick nach rechts, an dieser Stelle spiegelte sich das Tageslicht auf dem Linoleum in hellen Flecken. Gebückt lief ich dorthin und erblickte das Fenster. Auch die Tür zum Arbeitszimmer erkannte ich an der edlen Goldklinke sofort.
    Einige Sekunden hockte ich da, das Ohr an das Schlüsselloch gepreßt. Aus dem Zimmer drang kein Laut. Schließlich wagte ich es und schob die Tür einen Spalt weit auf. Im Zimmer war keiner. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Akten; meine jedoch, die dickste von allen (wie sie ausgesehen hatte, erinnerte ich mich genau), befand sich nicht am alten Platz.
    Verzweifelt sah ich mich im Zimmer um. Jener tranchierte Herr auf dem Plakat schaute mit gnadenlosem Optimismus auf mich herab; mir wurde angst und bange. Irgend etwas bedeutete mir, daß im nächsten Moment die Wärter zur Tür hereinkommen mußten. Nahe daran, mich auf der Stelle umzudrehen und auf den Gang zu flüchten, sah ich plötzlich, daß eine Akte aufgeklappt unter den auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papieren lag.
     
    Taurepam-Kur angesetzt (intravenös, vor Wasseranwendung) Ziel: Dämpfung ling.-kinäst. Funktionen bei gleichzeit. Aktivierungpsychomotor. Komplex…
     
    Weitere lateinische Wörter folgten. Ich schob die Papiere beiseite, klappte den Aktendeckel um und las:
     
    Akte:
PJOTR PUSTOTA
     
    Ich setzte mich in Professor Kanaschnikows Sessel.
    Die allererste Eintragung (in einem in die Kladde eingelegten Heft) war so alt, daß die violette Tinte schon verblaßt war und eine gewissermaßen historische Färbung angenommen hatte, wie man es aus Dokumenten kennt, in denen von Leuten die Rede ist, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich las mich sogleich fest.
     
    In früher Kindheit keine Klagen über psychische Auffälligkeiten. Lebensfroher, sanfter, umgänglicher Knabe. Gut in der Schule, schrieb gern Gedichte (ohne bes. ästhet. Wert). Erste pathol. Devianzen im Alter von ca. 14 J. festgestellt. Verschlossenheit u. Gereiztheit ohne Vorliegen äuß. Gründe. Hat sich nach Auss. d. Eltern »von der Familie entfernt«, Zustand emot. Entfremdung. Kontakt zu Freunden abgebrochen – angebl. wg. Hänseleien bzgl. seines Namens Pustota . Gleiches geschieht nach Auss. Pat. seitens Erdkundelehrerin, die ihn mehrfach »Pustekuchen« nennt. Drast. Abfall schul. Leistungen. Beginnt in dieser Zeit verstärkt philos. Lit. zu lesen: Hume, Berkley, Heidegger – alles, was irgendwie die philos. Aspekte des Nichts bzw. Nichtseins behandelt. Zeigt von da an Neigung zur »metaphysischen« Bewertg. alltäglichster Vorgänge; behauptet immer wieder, er sei den Altersgefährten in der »Kühnheit des Lebenswurfs« überlegen. Schwänzt immer öfter die Schule. Daraufhin konsultieren die Eltern den Arzt.
    Kontaktaufnahme mit Psychiater fällt Pat. leicht. Zutraulich. Über sein Innenleben gibt Pat. folg. Auskunft: Er habe ein »besonders konzipiertes Weltempfinden«. Denke »trefflich und ausgiebig« über seine Umwelt nach. Seine psych. Aktivität beschreibend, erklärt Pat., das Denken »verbeiße« sich gewissermaßen in einen Gegenstand., um zum Wesen vorzudringen. Infolge dieser mentalen Besonderheit vermag Pat. »jede gestellte Frage, jedes Wort, jeden Buchstaben zu analysieren u. dabei bis ins kleinste zu zerlegen«, wobei in seinem Kopf ein »triumphaler Chor vieler miteinander streitender Ichs« existiere. Sieht sich ausgesprochen unschlüssig a) aufgrund des Studiums der »alten Chinesen«, b) weil »die Orientierung im Wirbel von Tönen und Farben innerlicher Widersprüche schwierig« sei. Andererseits lt. eig. Auss. zu »freiem Gedankenflug« fähig, welcher ihn über alle »Laien« erhebe. Diesbezügl. klagt Pat. über Einsamkeit und Unverstandensein durch andere. Keiner sei imstande, »in Resonanz« zu ihm zu denken.
    Pat. behauptet, er könne sehen und fühlen, was »Laien« unzugänglich sei. Sieht z.B. in Falten von Gardinen u. Tischdecken, Tapetenmustern etc. gewisse Linien, Muster, Formen, die »die Schönheit des Lebens« bezeichnen. Dies sei sein »Goldenes Los«, d.h. der Anreiz, weshalb Pat. tagtäglich die »unfreiwillige Bürde der Existenz« auf sich nehme.
    Pat. hält sich für einzigen Nachfolger der großen Philosophen der Verg. Repetiert ausführl. »Reden an das Volk«. Beschwert sich nicht bez. Unterbringung i. Psychiatrie, da überzeugt, daß seine »Eigenentwicklung« unabhängig vom Aufenthaltsort »ihren Gang« gehe.
     
    Einige

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