Buddhas kleiner Finger
kommen und mich fragen, wo sie sind. Und sagte ich dann, sie seien im Kopf … Ein ewiges Pingpong. Man hätte sich natürlich in irgendwelchen Zitaten ergehen können. Doch wie ich jetzt mit Verwunderung feststellte, wurde diese logische Bresche von jedem der Systeme, auf die ich hätte verweisen können, umgangen oder mit einer Handvoll zweifelhafter Latinismen zugestopft. Ja, Tschapajew war ganz und gar nicht dumm. Freilich gibt es einen hundertprozentig sicheren Weg, wie man seinen Widersacher in jedem beliebigen Streit festnageln kann – man muß bloß verkünden, daß einem alles, was er anführt, bestens bekannt sei, und zwar unter der Schublade Soundso, und das menschliche Denken sei längst darüber hinweg- und fortgeschritten. Doch wäre es mir peinlich gewesen, wie ein aufgeblasener Erstsemestler zu wirken, der ein Strohfeuer ums andere entfacht und zwischendurch mal eben kurz im Philosophielehrbuch blättert. Und hatte ich nicht vor kurzem erst den Philosophen Berdjajew, als er im trunkenen Zustand über die griechischen Wurzeln des russischen Kommunismus referierte, mit der Bemerkung brüskiert, Philosophie solle besser Sophophilie heißen?
»Hm«, sagte Tschapajew, und dann fragte er:
»Wo kann das menschliche Denken denn hinschreiten?«
»Äh, wie?« fragte ich verstört.
»Ich meine, fortgeschritten, schön und gut. Wohin denn?«
Ich mußte meinen Gedanken versehentlich ausgesprochen haben.
»Lassen Sie uns über etwas Handfestes reden, Wassili Iwanowitsch. Ich bin ja kein Philosoph. Dann schon lieber weitertrinken.«
»Wärst du ein Philosoph«, sagte Tschapajew, »hättest du es bei mir nicht weitergebracht als bis zum Pferdestallausmisten. Aber du befehligst eine Schwadron. In Losowaja hattest du das alles schon mal richtig gut kapiert. Was ist bloß los mit dir? Macht das die Angst? Oder die Freude?«
»Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte ich und hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, als zögen sich in mir sämtliche Nervenfasern zusammen. »Alles weg.«
»Ach, Petka«, seufzte Tschapajew und goß den nächsten Schnaps ein. »Ich weiß gar nicht, was ich von dir halten soll. Versuch erst mal, mit dir selbst ins reine zu kommen.«
Und wir tranken. Mit einer mechanischen Bewegung griff ich mir eine Zwiebel vom Tisch und biß kräftig hinein.
»Wollen wir vorm Schlafen noch ein bißchen Luft schnappen?« schlug Tschapajew vor, während er sich eine Papirossa anzündete.
»Warum nicht«, sagte ich und legte die angebissene Zwiebel zurück auf den Tisch.
Während ich schlief, mußte es kurz geregnet haben, der kleine Hang zum Haus hinauf war feucht und schmierig. Wie sich herausstellte, war ich sturzbetrunken – fast oben angelangt, glitt ich aus und fiel ins nasse Gras. Mein Kopf kippte nach hinten, und ich sah den Himmel voller Sterne über mir. Das war so wunderschön, daß ich einige Augenblicke rücklings liegenblieb und schweigend hinaufschaute. Tschapajew hielt mir die Hand hin und half mir auf. Als wir endlich auf einer ebenen Stelle zu stehen kamen, blickte ich noch einmal nach oben. Plötzlich wurde mir klar, daß es eine Ewigkeit her war, seit ich den Sternenhimmel zum letztenmal gesehen hatte. Und dabei war er die ganze Zeit dort oben gewesen – man hätte nur den Kopf in den Nacken zu legen brauchen. Ich mußte lachen.
»Was hast du?« fragte Tschapajew.
»Nur so«, sagte ich und zeigte mit dem Finger hinauf. »Es ist schön.«
Tschapajew äugte nach oben und schwankte.
»Schön? Was heißt schön?« fragte er versonnen.
»Schönheit ist die vollkommene Objektivität des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit«, sagte ich. »Was dachten denn Sie.«
Tschapajew starrte noch eine Weile in den Himmel, senkte dann den Blick auf die große Pfütze direkt vor unseren Füßen und spuckte seine Kippe hinein. Im Universum, wie die makellose Oberfläche der Pfütze es spiegelte, ereignete sich eine Katastrophe: Sämtliche Sternbilder bebten und verschmolzen für einen Moment zu einem einzigen blaßleuchtenden Fleck.
»Zwei Dinge haben mich schon immer gewundert«, sagte Tschapajew, »der Sternenhimmel unter unseren Füßen und Immanuel Kant in uns drin.«
»Und was ich absolut nicht begreife, ist, wie man einem, der Kant und Schopenhauer verwechselt, eine ganze Division anvertrauen kann.«
Tschapajew blickte mich schwerfällig an und wollte gewiß etwas erwidern, da klapperten Kutschenräder über das Pflaster der Straße, und Pferde wieherten. Jemand
Weitere Kostenlose Bücher