zog er eine Dose Bier unter der Parkbank hervor, öffnete sie, hob sie zum Himmel und sagte laut: »Na dann, Paul. Wir sehen uns bald.«
Nein, dachte Kerstin Holm und blickte durch die Frontscheibe zum Himmel hoch. Nein, es ist kein Deckel. Es ist etwas anderes. Sie versuchte dahinterzukommen, was es war.
Ich bin unterwegs zwischen meinen Sterbenden und Toten, dachte sie. Und sie werden immer mehr. Wenn ich es nun bin, die sie tötet? Durch mein bloßes Dasein?
Aber diese hier soll nicht sterben, dachte sie dann und fuhr auf die Tranebergsbro. Ich will dafür sorgen, dass zumindest Tova nicht stirbt.
Und überall sah sie Paul Hjelm vor sich, angefangen bei den ersten tastenden Begegnungen in der Zeit mit den Machtmorden, dann die phantastische Zusammenarbeit in der Kneipe Kvarnen und die Zeit von Artos Europablues, später Dag Lundmarks widerwärtiges Chaos und schlussendlich das vergangene Jahr in Berlin. Als alles gut zu werden schien.
Als all das, was zehn Jahre zuvor hätte geschehen sollen, erneut möglich zu sein schien. Sie kamen einander wieder näher. Sie nahmen sich vor, sich Zeit zu lassen. Da starb Bengt Åkesson, und alles veränderte sich.
Und jetzt war es zu spät.
Jetzt war es wirklich und ganz und gar zu spät.
Alles in ihr verkrampfte sich. Wieder einmal. Als ob dieser verdammte Deckel, oder was es nun war, eine Hand herunterschickte, eine Klaue, die ihr an die Kehle fuhr und ihr den Hals zudrückte.
Sie befühlte ihre Schläfe, wo sie angeschossen worden war und wo ihr ein Stück des Knochens fehlte, wo ihr der Schutzwall fehlte zwischen dem Gehirn und der Welt. Sie lag neben Paul Hjelm, der auch getroffen worden war, und starrte in einen regendichten Himmel hinauf. Nie würde sie vergessen, wie die Regentropfen größer und größer geworden waren. Und sie würde nie die Worte vergessen: »Ich liebe dich, Paul.«
Ich bin ein Idiot gewesen, dachte Kerstin Holm. Der einzige Trost ist, dass er auch einer war.
Und jetzt werde ich verdammt noch mal seine Tochter retten.
Sie befand sich auf der höchsten Stelle der Tranebergsbro, und als sie auf den Mälarsee hinausblickte, sah sie, dass der schwere, dichte Deckel kein Deckel war.
Es war ein Auge.
Ein Himmelsauge.
*
Gunnar Nyberg betrachtete seinen Partner. Nie hatte er Arto Söderstedt so weiß gesehen, so im Ausnahmezustand. Er saß gebeugter denn je über seinem Computer. Nyberg meinte, Söderstedt vor Augen zu haben, wie er in zwanzig Jahren sein würde, und das war kein schöner Anblick.
Er fragte sich, wie er selbst aussah.
Zu trauern lag ihm nicht. Paul war zweifellos einer seiner besten Freunde gewesen, aber Gunnars Bewusstsein, seine Seele, war nicht auf Trauern eingestellt. Stattdessen erschien ihm Paul vor seinem inneren Auge, und zwar ganz lebendig. Nichts war zwischen ihnen offen und unausgesprochen geblieben, mit Paul Hjelm verband er ausschließlich positive Erinnerungen. Irgendwie gelang es ihm, es dabei zu belassen. Er spürte sogar ein leichtes Glücksgefühl darüber, Paul Hjelm kennengelernt zu haben.
Vermutlich stimmte mit ihm etwas nicht.
»Ich habe eine Mail bekommen«, sagte Arto Söderstedt finster.
»Magda?«
»Von
[email protected]. Ich kenne viel zu wenige Magdas in der Toskana.«
»Was schreibt sie?«
»›Remove site immediately, you stupid white boy. I’m on msn an hour from now. Time’s running out.‹«
»MSN?«, fragte Gunnar und ging um den gemeinsamen Schreibtisch herum auf Artos Seite. »Ist das nicht ein Chatroom?«
»Genau«, sagte Arto Söderstedt und loggte sich in besagtes Programm ein. Viel zu routiniert, dachte Gunnar, und bevor Arto »magdatuscany« eingegeben hatte, sah er die Liste von Artos Kontakten. Sie war unerwartet lang.
Als ob das eine Rolle spielte, dachte Nyberg und hob seinen Stuhl auf Söderstedts Seite herüber.
»Hi, Magda«, schrieb Arto. »Long time no see.«
»You stupid man«, antwortete Magda. »Are you trying to kill me?«
»Wenn ich dich töten wollte, hätte ich das schon vor langer Zeit getan, meine Schöne«, schrieb Arto in stilvollem angelsächsischem Englisch.
»Du kannst es ja mal versuchen«, schrieb Magda zurück und hatte ein kleines Smiley hinzugefügt.
Gunnar Nyberg fand das Ganze bizarr. Sie bekamen ein Smiley, ein lächelndes kleines Gesicht, von einer vielfachen Mörderin.
Mit Artos nächstem Satz nahm das Gespräch einen anderen Ton an.
»Ich vermute, ihr zieht den Zuhältern die Gesichtshaut ab, um das schönheitschirurgische