Bußestunde
Paul Hjelm ein paar Sekunden brauchte, um seine frühere Ehefrau Cilla wiederzuerkennen.
Alles war nämlich verändert, nichts stimmte mehr. Er hatte Cilla fast zwei Jahre nicht mehr gesehen, und sie hatte einen veritablen Verwandlungsprozess durchgemacht. Das blonde Haar, das sie immer als Pagenfrisur getragen hatte, war kurz geschnitten und schwarz, das Kleid eng und schwarz, und die Wangenknochen waren deutlich markanter. Er spürte, dass er sie anstarrte. Schließlich, als ihr suchender Blick ein Ziel fand, starrte sie zurück. Auf die einzige Weise, die bei ihrer ganzen Erscheinung zu erwarten war: zornig.
»Wieso hast du erst heute Morgen angerufen?«, zischte sie. »Findest du nicht, dass ich das gleiche Recht wie du habe, zu wissen, wie es meiner Tochter geht?«
Paul Hjelm sparte sich die Antwort. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streit. Außerdem hatte er nicht das geringste Bedürfnis, sich zu verteidigen.
Und offenbar war Anita Kochs der gleichen Meinung. Sie streckte wieder die Hand aus, stellte sich vor und sagte: »Ihre Tochter ist einundzwanzig Jahre alt und wohnt allein. Keiner von Ihnen beiden ist an ihrem jetzigen Zustand schuld, keiner außer Tova selbst, und deshalb schlage ich vor, eventuell vorhandene Aggressionsbedürfnisse vorläufig aufzuschieben. Klingt das vernünftig?«
»Ich bin Krankenschwester«, sagte Cilla verwirrt.
»Und ich Ärztin«, sagte Anita Kochs mit einem betörenden Lächeln. Fand jedenfalls Paul Hjelm. Dem es zu seiner großen Verwunderung gelang, sein Schweigen beizubehalten.
Tova betrachtete ihre Mutter mit unergründlicher Miene. Schließlich sagte sie: »Du hast eine Schlankheitskur gemacht.«
»Aber meine liebe Tova«, war alles, was Cilla herausbrachte.
»Ich habe Ihnen jetzt die therapeutische Strategie der Privatklinik Äppelviken vorgestellt«, sagte Anita Kochs. »Wir setzen auf stationäre Unterbringung und strikte Überwachung. Wir wollen heilen, nicht lindern. Anorexia nervosa lässt sich nicht lindern. Entweder hat man die Krankheit, oder man wird sie los. Ein Mittelding gibt es nicht. Und wenn es einem gelingt, sie loszuwerden, kann man trotzdem sein Leben lang einen Rückfall erleiden.«
»Können Sie über die Krankenversicherung abrechnen?«, fragte Cilla.
Paul Hjelm spürte, dass er mit sich selbst kämpfte. Warum war er nicht verwundert, dass ihre erste Frage ökonomischer Art war? Aber er schwieg weiter.
»Aber natürlich«, sagte Anita Kochs mit einem nachsichtigen Lächeln.
Und dann wiederholte sie, was vorher schon gesagt worden war. Paul Hjelm versank in eine Art meditativer Trance, in der die exakten Wiederholungen den Charakter von Mantras annahmen. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und hatte keine Mühe, in einen buddhistischen Zustand absoluter Abwesenheit zu versinken. Irgendetwas in ihm sah aber ein, dass es unpassend war, hier und jetzt einzuschlafen, und so war seine einzige bewusste Handlung während der folgenden Minuten die, dass er es vermied einzuschlafen. Das Übrige fand auf einem ganz anderen Schauplatz statt.
Er wusste nicht recht, wie es geschehen war, aber plötzlich hatte Anita Kochs den Raum verlassen. Cilla starrte ihn an und sagte: »Und?«
Er versuchte, logisch zu denken. Vermutlich war Anita Kochs hinausgegangen, damit sie die Sache in Ruhe diskutieren konnten. Also entschloss er sich, dies zu tun. »Ich denke, es klingt gut«, versuchte er also.
»Wie hast du das hier gefunden?«, fragte Cilla. »Es gibt doch massenweise Kliniken.«
»Die besser sind als diese hier?«, sagte Paul.
»Das weiß ich nicht«, gab Cilla zu. »Aber wir hätten jedenfalls die Alternativen durchgehen können.«
»Dafür war keine Zeit«, sagte Paul. »Wir mussten handeln.«
»Es ist nicht nur das«, war Tova plötzlich zu vernehmen. »Du hast nicht nur abgenommen. Du hast dich verdammt noch mal auch liften lassen.«
Cilla starrte ihre Tochter an. Dann fasste sie sich und erwiderte: »Und was du getan hast, ist jedenfalls offensichtlich.«
»Schluss jetzt«, sagte Paul instinktiv. »Was redet ihr? Was meinst du, Tova? Hast du hier ein gutes Gefühl?«
Tova zuckte mit den Schultern und legte die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Knie. So blieb sie sitzen und sah sie an.
»Ich finde, wir machen das jetzt«, meinte Paul aufmunternd. »Sie haben einen guten Ruf und eine hohe Erfolgsquote.«
»Und hier ist sie ja auch eingesperrt«, zischte Cilla. »So was gefällt dir ja.«
»Hört
Weitere Kostenlose Bücher