Bußestunde
auf!«, schrie Tova, ohne von ihren Händen aufzusehen.
»Gut, dann machen wir das, Tova«, sagte Paul. »Ich besuche dich jeden Tag, ich verspreche es.«
»Ich auch«, sagte Cilla. »Ich verspreche es.«
»Aber bloß nicht gleichzeitig«, bat Tova.
Paul und Cilla sahen sich an. Eine ganze Weile. Dann mussten sie lachen. Gleichzeitig.
»Okay«, sagte Paul.
»Nicht gleichzeitig«, sagte Cilla.
Sie verließ den Raum, um Anita Kochs zurückzuholen. Paul langte zu Tova hinüber und legte seine Hand auf ihre nach oben gewandten Handflächen. Er sagte nichts, und sie sah ihn rasch mit einem Rehaugenblick an. Auch sie schwieg. Aber sie zog die Hände auch nicht weg.
Als Cilla und Anita Kochs zurückkehrten, waren Paul und Tova aufgestanden. Cilla umarmte Tova – und vielleicht wirkte es nur in Pauls Augen ein wenig steif. Dann umarmte auch Paul seine Tochter – und spürte zum ersten Mal ihre knochigen Arme auf seinem Rücken. Das würde ihn den Rest des Tages aufrecht halten, er wusste es sofort.
Auf dem Weg aus der Privatklinik von Äppelviken hinaus warf er noch einmal einen Blick auf seine frühere Ehefrau. Ihr Profil war tatsächlich ganz anders geworden. Aber er entschloss sich, nicht zu fragen. Sollte sie es ansprechen, wenn sie wollte.
Draußen auf der Veranda der großen Architektenvilla blieben sie stehen. Von hier aus senkte sich eine Rasenfläche zum Mälarsee hinab, und Schwedens drittgrößter Binnensee glitzerte einladend an diesem frühen Herbsttag.
Ein Anflug von Wehmut streifte Paul Hjelm. Aber auch ein gewisses Gefühl, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand. »Unsere Tochter«, sagte er versöhnlich und blickte auf all das Schöne hinab.
»Ich hab es auch gehabt«, sagte Cilla und sah in dieselbe Richtung.
»Was?«, fragte Paul und richtete den Blick rasch auf sie.
»Eine weibliche Seuche«, sagte sie. »All die Scham …«
»Aber wann denn?«
»Im selben Alter. Ein paar Jahre bevor wir uns begegnet sind.«
»Und jetzt hast du dich liften lassen?«
Das war nicht beabsichtigt gewesen. Das hätte nicht kommen dürfen. Er schloss kurz und fest die Augen und richtete den Blick dann wieder auf den herbstglitzernden Mälarsee. Er spürte, dass sie ihn anstarrte, von der Seite.
»Ich habe endlich einen Mann getroffen, dem ich etwas bedeute«, sagte sie schließlich und ging davon.
Er sah ihr nach, wie sie auf ungewöhnlich hohen Absätzen die Treppe zur Veranda hinabstieg und zum Parkplatz auf der anderen Seite der Hecke stöckelte. Dort sah er das Dach eines Autos, zu dem sie ging. Das Dach des größten Stadtjeeps, eines dieser Monsterfahrzeuge, die zu keinem anderen Zweck gebaut werden, als verkehrssicher zu sein, indem sie dafür sorgen, dass das Auto des anderen zermalmt wird. Es waren Mordmaschinen. Sie stieg ein, und die Mordmaschine fuhr schneller los, als sie den Motor hätte starten können. Er sah ihr nach und erkannte die Kontur des Mannes am Steuer.
Er musste lachen und ging zu seinem Umweltauto.
Bachs h-Moll-Messe leistete ihm auf der E 4 nach Süden Gesellschaft, vorbei an Essingeöarna, an Gröndal und Aspudden, vorbei an Liljeholmen und Midsommarkransen, und auch an Skärholmen und Vårberg war er vorbei, bevor das Umweltauto tatsächlich abhob. Er war zurück. Es war schwierig gewesen, aber jetzt war er zurück. Bachs h-Moll-Messe führte ihn zurück. Sie ließ ihn an der Landschaft der Vergangenheit in Botkyrka ohne jede Schwere vorübergleiten.
Johann Sebastian Bach war vermutlich das produktivste Genie der Musikgeschichte. Er lebte in einer Zeit, in der der Hunger des Publikums auf neue Musik unstillbar war, und entsprechend unermüdlich war sein Schaffen. Er schuf eine neue Zeit und wusste es. Er war jung und radikal und sah Möglichkeiten, wo sie kein anderer je gesehen hatte. Plötzlich gab es eine neue Welt, und Johann Sebastian Bach hatte sie erschaffen. Er war imstande, im Laufe eines Jahres mehr Werke zu komponieren als ein heutiger Komponist in einem ganzen Leben. Und die göttliche h-Moll-Messe war eigentlich eine Ansammlung verschiedener handwerklicher Reste. Das Seltsame war, dass sich dieses Sammelsurium aus der gesamten Karriere Bachs – zwischen den ältesten und den jüngsten Teilen lag ein Vierteljahrhundert – zu einer so perfekten, wunderschönen Ganzheit zusammenfügte. Und zugleich bot die Messe einen exemplarischen Überblick, wie sich Bachs Stil mit der Zeit und dem Wechsel der Musikmoden verändert hatte.
Vor allem aber war es ganz
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