Bußestunde
Larsson, der sie einen Augenblick lang mit seinem Wasserblick anstarrte. Schließlich sagte er: »Fass rein in Richtung der Lampe.«
Hjelms Hand tastete sich vorsichtig in diese Richtung. Er hatte fünf Jahre lang der Sondereinheit der Reichskriminalpolizei für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter angehört, fünf Jahre, in denen er mindestens einmal im Jahr sein Leben riskiert und in unmittelbarer Lebensgefahr geschwebt hatte. Danach war er Chef der Stockholmer Sektion der Abteilung für interne Ermittlungen geworden, und auch in dieser Funktion hatte er sich alle Jahre wieder einer Reihe lebensgefährlicher Situationen ausgesetzt. Es wäre ihm mit anderen Worten äußerst kläglich vorgekommen, bei einem Bruch eines anthroposophischen Toilettendeckels in Järna umzukommen.
Das geschah jedoch nicht. Er berührte die abgewandte Rückseite der Armatur, aber nur, um sofort die Richtung zu ändern und stattdessen etwas hervorzuziehen, was man gemeinhin ein Wachstuchheft nennt.
Es war einfach nur ein Notizbuch. Bei all dem Staub in diesem Versteck fiel Paul Hjelm auf, wie wenig staubig das Wachstuchheft war. Es konnte nicht sehr lange her sein, dass jemand etwas hineingeschrieben oder darin gelesen hatte.
Hjelm reichte das Heft zu Larsson hinunter, der seinerseits die Klappe hinaufschickte, die Hjelm wiederum in der Decke anbrachte. Dann stieg er hinunter, und sein Gesicht war wieder zehn Zentimeter von demjenigen Larssons entfernt.
»Sie müssen es zurückgeben«, wiederholte Larsson.
»Versprochen«, sagte Hjelm.
Larsson betrachtete ihn neutral wie eine Salzsäule. Viel zu lange, als dass es ein angenehmes Gefühl hätte sein können. Dann verließ er die Toilette. Hjelm atmete aus und folgte ihm.
Sie waren wieder in Michael Larssons Zimmer. Larsson überreichte das Wachstuchheft zeremoniell an Hjelm, der es mit schlecht gespielter Feierlichkeit entgegennahm.
Er schlug die erste Seite auf. Dort stand: »›Meine starken Seiten‹ von TM.«
Hjelm blätterte ein wenig in dem Heft. Tore Michaelis’ Handschrift war pedantisch genau und sehr gleichmäßig. Bei irgendeiner Gelegenheit, an die er sich im Moment nicht erinnern konnte, war Hjelm selbst zu einer sehr attraktiven Grafologin in Kristineberg gegangen, die seine Handschrift in etwa als die eines »kreativen Chaoten« beurteilt hatte. Hjelm ahnte, dass Michaelis eher als »moralischer Pedant« zu bezeichnen war.
Und das stimmte recht gut mit Paul Hjelms Bild von seinem Vorgänger überein. Einer, der nach den Regeln spielte, ohne sich über sie zu ärgern. Einer, der ganz und gar innerhalb des Rahmens eines Systems agierte. Aber auch einer, der nicht das Geringste dagegen hatte, das System von innen her zu verändern. Es würde ungeheuer interessant sein, seine Notizen zu lesen – welcher Art sie auch sein mochten – und zu sehen, ob das Bild stimmte.
Er verabschiedete sich von Michael Larsson, der natürlich keine Miene verzog. Als er zu dem Parkplatz inmitten dieses Paralleluniversums der Anthroposophen kam, sah er Larsson durch das Fenster. Er saß in genau der gleichen Haltung da und sah aus, als sei er erleuchtet von einem eigenen inneren Licht. Paul Hjelm fragte sich einen Moment lang, wer er eigentlich war. Wie er seine Tage verbrachte. Was sich eigentlich in diesem Kopf hinter dem seltsam wässrigen Blick abspielte.
Aber dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Wachstuchheft. Deutlich weniger als die Hälfte des knapp hundertseitigen Büchleins war mit datierten Notizen gefüllt.
Er hatte zum Präsidium fahren wollen, um das Buch zu lesen, aber es fesselte ihn von der ersten Sekunde an. Er blieb im Auto sitzen, während um ihn herum die Scheiben beschlugen und ihn immer mehr von der Außenwelt trennten. Schließlich gab es gar keine Verbindung mehr zwischen der Welt drinnen und der Welt draußen.
Nicht zuletzt, weil er Bachs h-Moll-Messe laufen ließ, während er las.
13
Donnerstag, 25. Mai
Es ist schwer zu sagen, wann die Dinge ihren Anfang nehmen. In meiner Branche hat man uns beigebracht, nicht zu schreiben, nichts zu hinterlassen. Stattdessen erinnern wir uns. Wir speichern die Dinge im Gedächtnis. Schließlich wird das Gedächtnis so schwer, dass das Gehirn nachgibt und in sich zusammenfällt. Das ist der Moment, in dem wir verrückt werden. Wenn es uns vergönnt ist, so lange zu leben.
In gewisser Weise habe ich natürlich Glück gehabt. Ich habe in Schweden gelebt. Ich vermute, dass die mittlere Lebenserwartung
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