Bußestunde
einfach wunderbare Musik, bei der die Luft unglaublich viel leichter zu atmen war. Die zweihundertfünfzig Jahre, die zwischen dem Kantor in Leipzig und dem Polizisten im Umweltauto lagen, existierten nicht mehr. Die Verbindung zwischen ihnen war unmittelbar und nicht zu bezweifeln.
Und dann war er in Järna. Es war keine Zeit vergangen. Die Zeit war einfach aufgelöst und ausradiert worden.
Die Musik dauerte an, obwohl er sie hatte abschalten müssen, und erst, als er sich einer seltsamen Persönlichkeit namens Michael Larsson gegenübersah, begann die Zeit wieder zu ticken.
Dafür tat sie es dann mit Nachdruck.
Michael Larsson war Ende vierzig und sah aus wie eine Karikatur seines älteren Bruders. Alle Züge von Tore Michaelis waren vorhanden – aber expandiert, erweitert, vergrößert. Jedenfalls bestand kein Zweifel, dass es der Bruder war.
»Ich suche Tore Michaelis«, sagte Paul Hjelm vorsichtig.
Larsson sah ihn völlig blank an. Überhaupt war etwas sehr Ungeschütztes an der ganzen Gestalt, die hier in diesem kleinen Zimmer des kargen anthroposophischen Pflegeheims in Järna saß. Michael Larsson war ohne Zweifel ein Mann ohne irgendwelche Schutzwälle.
»Ich habe ihn lange nicht gesehen«, sagte Larsson.
»Ich weiß«, sagte Hjelm und zog ein Buch aus der Tasche. Es war Den gode tolken von John le Carré.
Michael Larsson beobachtete ihn mit großer Ruhe.
Hjelm schlug die Seite 18 auf und las: »Aber Bruder Michael kannte auch meine schwachen Seiten.«
Bruder Michael sah Hjelm weiterhin an, als habe der kein Wort gesagt.
»Von welchen schwachen Seiten spricht Tore?«, fragte Hjelm.
Michael Larssons Blick war wirklich eigentümlich wässrig. Es war, als ströme ein Fluss durch seinen Kopf. »Wer sind Sie?«, fragte er schließlich.
Und Hjelm fiel ein, dass er wieder einmal vergessen hatte, sich vorzustellen. Er versuchte darauf zu kommen, wofür das ein Anzeichen war. »Ich bin Kommissar Paul Hjelm. Ich habe die Stelle Ihres Bruders bei der Polizei übernommen. Da Tore verschwunden ist. Ich versuche, ihn zu finden.«
»Wie hieß das Kaninchen Ihrer Cousinen?«
Hjelm betrachtete den sphärischen Spionbruder und dachte daran, dass dies eine Frage war, wie man sie in psychiatrischen Kliniken riskierte. Er lächelte und sagte: »Muppan. Es war übrigens ein Hauskaninchen.«
»Man muss erst die starken Seiten lesen«, sagte Michael Larsson.
Hjelm betrachtete ihn. Er war sich nicht sicher, ob das Codewort Muppan irgendeinen Effekt gehabt hatte. »Ich vermute, Sie haben die starken Seiten, Michael.«
»Ich kann sie Ihnen leihen. Aber Sie müssen sie zurückgeben.«
»Und wenn ich sie zurückgegeben habe, geben Sie mir die schwachen Seiten?«
»Nein, wenn Sie richtig gelesen haben, haben Sie sie schon gelesen.«
»Okay …«, sagte Paul Hjelm zögernd.
»Wenn Sie die starken Seiten richtig lesen, werden Sie auch die schwachen Seiten finden.«
Michael Larsson produzierte seine Aussagen mit steinerner Miene und wässrigem Blick. Er war ein Orakel, das in Granit gehauene Lebensweisheiten von sich gab.
Das war einfach nur bizarr.
Dann stand Michael Larsson auf. Er war sehr seltsam gekleidet. Er trug einen braunen Trainingsanzug aus Nylon aus den Siebzigerjahren. Die Hosen waren zehn Zentimeter zu kurz und ließen den Blick frei auf ein Paar rosa Moonboots von anno 1975. Mit einem ferngesteuerten Bewegungsmuster führte er Hjelm auf die völlig sterilen Flure des Pflegeheims bis zu einer Toilette. Sie war sehr eng, wie Hjelm konstatierte, als sie um die Toilettenschüssel standen. Sein Gesicht war zehn Zentimeter von Michael Larssons eigentümlichem Karikaturgesicht entfernt. Sein Atem roch nach einem süßlichen Lösungsmittel.
Soweit man es von einem solchen Wasserblick überhaupt sagen konnte, richtete Larsson ihn auf Hjelm und sagte: »Klettern Sie rauf.«
Als Paul Hjelm auf dem Klodeckel im anthroposophischen psychiatrischen Pflegeheim in Järna balancierte, fragte er sich für einen kurzen Moment, ob dies wirklich sein Leben war. Lag nicht ein göttlicher Irrtum vor? War er nicht womöglich im Leben irgendeines anderen Menschen gelandet?
»Die Klappe links von der Lampe«, sagte Michael Larsson.
Hjelm starrte hinauf zur Decke. Sie bestand aus perforierten weißen Karos, die man mit etwas gutem Willen Klappen nennen konnte. Also gab es eine links von der Lampe, und er drückte sie leicht nach oben, sodass sie seitwärts nach unten klappte. Er fing sie auf und reichte sie Michael
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