Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Keine Antwort. Er klingelte und klopfte abermals. Keine Reaktion.
Sie traten ein paar Schritte zurück und betrachteten das Haus. Die weißen Vorhänge vor den beiden Fenstern im ersten Stock waren zugezogen. Vor dem großen Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss hingen dieselben Vorhänge, die einen Spalt geöffnet waren. Der Spalt war nicht groß genug, um einen Blick ins Haus werfen zu können. Das Reihenhaus stand in der Mitte der Straße. Um zum Hintereingang zu gelangen, hätten sie bis zum Ende der Straße und hinter der Häuserzeile zurück bis zum Haus laufen müssen. Byrne beschloss, noch einmal zu klopfen. Diesmal lauter.
Und in diesem Augenblick hörten sie die Schüsse. Im Haus. Eine großkalibrige Waffe. Drei schnelle Schüsse, die die Fenster klirren ließen.
Jetzt brauchten sie keinen Durchsuchungsbeschluss mehr.
Kevin Byrne warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Einmal, zweimal, dreimal. Beim vierten Mal brach die Tür aus den Angeln. »Polizei!«, rief er und sprang mit erhobener Waffe ins Haus. Jessica forderte über Funk Verstärkung an und folgte ihm dann, die Glock im Anschlag.
Linker Hand lagen ein kleines Wohnzimmer und ein Esszimmer. Leer. Vor ihnen eine Diele, die vermutlich in die Küche führte. Rechts eine Treppe, die nach oben und nach unten führte. Byrne und Jessica verständigten sich stumm. Jessica übernahm das erste Stockwerk. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht im Haus gewöhnt hatten. Ihr Blick glitt über den Boden des Wohnzimmers und der Diele. Keine Blutspuren. Draußen hielten zwei Streifenwagen mit kreischenden Reifen.
Einen Augenblick herrschte Totenstille im Haus.
Dann hörten sie die Musik. Ein Klavier. Schwere Schritte. Byrne und Jessica richteten ihre Waffen auf die Treppe. Die Geräusche drangen aus dem Keller. Zwei Streifenbeamte erreichten die Haustür. Jessica wies sie an, den ersten Stock zu überprüfen. Die Polizisten zogen ihre Waffen und stürmten die Treppe hinauf. Jessica und Byrne stiegen die Treppe in den Keller hinunter.
Die Musik wurde lauter. Streichinstrumente. Wellen, die sich an einem Strand brachen.
Dann die Stimme.
»Ist das das Haus?«, fragte ein Junge.
»Das ist es«, antwortete ein Mann.
Ein Augenblick Stille. Ein Hund bellte.
»Hi. Ich wusste, dass hier ein Hund ist«, sagte der Junge.
Ehe Jessica und Byrne um die Ecke zum Keller bogen, wechselten sie einen Blick. Und begriffen. Es war nicht hier im Haus geschossen worden, sondern in einem Film. Als sie den düsteren Keller betraten, sahen sie, dass auf einem Plasmabildschirm mit einem 5.1 Dolby Surround System Road to Perdition lief. Die Lautstärke war sehr hoch eingestellt. In diesem Film waren die Schüsse abgefeuert worden. Die eingebauten Hightechlautsprecher hatten die Fenster klirren lassen. Auf dem Bildschirm standen Tom Hanks und Tyler Hoechlin an einem Strand.
Butler wusste, dass sie kommen würden. Butler hatte alles für sie inszeniert. Für den Filmemacher war der Vorhang offenbar noch nicht gefallen.
»Sauber!«, rief einer der Polizisten von oben.
Doch die beiden Detectives wussten es bereits. Nigel Butler war ausgeflogen.
Das Haus war leer.
***
Byrne spulte den Film bis zu der Szene zurück, als Tom Hanks in seiner Rolle als Michael Sullivan den Mann tötet, den er verdächtigt, seine Frau und einen seiner Söhne ermordet zu haben. In dem Film erschießt Sullivan den Mann in der Badewanne eines Hotels.
Die Szene war durch den Mord an Seth Goldman ersetzt worden.
Sechs Detectives durchsuchten jeden Winkel in Nigel Butlers Haus. An den Kellerwänden hingen ebenfalls Porträts von Butler, die ihn in seinen verschiedenen Rollen auf der Bühne zeigten: Shylock, Harold Hill, Jean Valjean.
Es lief eine landesweite Fahndung nach Nigel Butler. Allen Polizeidienststellen auf staatlicher, bundesstaatlicher und lokaler Ebene lagen Fotos des Mannes, das amtliche Kennzeichen seines Wagens sowie dessen Beschreibung vor. Sechs Detectives schwärmten auf dem Drexel-Campus aus.
An einer Wand im Keller stand ein Regal mit Video-, DVD- und 16-mm-Filmen. Allerdings fanden sie keine Geräte, mit denen Butler seine Videos hätte bearbeiten können. Keinen Camcorder, keine selbst gefilmten Videos, keine Beweise, dass Butler die gefilmten Mordszenen in die Videofilme eingefügt hatte. Mit etwas Glück würde ihnen in einer Stunde ein Durchsuchungsbeschluss für die Filmakademie und sämtliche Büros der Drexel University vorliegen. Jessica
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