Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Jessica. Auch wenn sie seit ihrer Versetzung in die Mordkommission im April schon oft Gelegenheit hatte, diese Worte zu sprechen, wurde es dadurch niemals einfacher.
Faith Chandler war Anfang vierzig, eine Frau mit abgespannten Gesichtszügen, die von langen Nächten und zu wenig Schlaf zeugten, eine Frau aus der Arbeiterschicht, die nun unversehens einer weiteren Statistik hinzugerechnet wurde, in der die Opfer von Gewaltverbrechen erfasst wurden. Alte Augen im Gesicht einer Frau mittleren Alters. Sie arbeitete nachts als Kellnerin im Melrose Diner. Sie hielt einen zerkratzten Plastikbecher mit einem Schluck Whiskey in der Hand. Neben ihr auf dem Fernsehtisch stand eine halb volle Flasche Seagrams. Jessica fragte sich, wie weit die Alkoholsucht dieser Frau bereits fortgeschritten war.
Faith erwiderte nichts auf Jessicas Mitleidsbekundung. Vielleicht glaubte diese Frau, sie könne das Unglück ungeschehen machen, wenn sie nicht antwortete und Jessicas Beileidsbekundung gar nicht zur Kenntnis nahm.
»Wann haben Sie Stephanie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Jessica.
»Am Montagmorgen«, erwiderte Faith. »Bevor sie zur Arbeit ging.«
»Ist Ihnen an dem Morgen etwas Ungewöhnliches aufgefallen? War Stephanie anders gelaunt, oder hat sie sich anders verhalten als sonst?«
»Nein. Sie war wie immer.«
»Hat sie gesagt, ob sie nach der Arbeit etwas vorhatte?«
»Nein.«
»Was haben Sie gedacht, als Stephanie am Montagabend nicht nach Hause kam?«
Faith zuckte mit den Schultern, tupfte sich die Augen ab und nippte von ihrem Whiskey.
»Haben Sie die Polizei angerufen?«
»Nicht sofort.«
»Warum nicht?«, fragte Jessica.
Faith stellte ihr Glas ab und faltete die Hände auf dem Schoß. »Manchmal ist Stephanie bei Freunden geblieben. Sie war volljährig und unabhängig. Ich arbeite nachts, und sie arbeitet am Tag. Manchmal haben wir uns tagelang nicht gesehen.«
»Hat sie Geschwister?«
»Nein.«
»Was ist mit ihrem Vater?«
Faith winkte ab. Diese Frage schien sie wachzurütteln. Sie hatten einen wunden Punkt berührt. »Er wohnt seit Jahren nicht mehr hier.«
»Wohnt er in Philadelphia?«
»Nein.«
»Von Stephanies Kollegen haben wir erfahren, dass sie bis vor Kurzem einen Freund hatte. Was können Sie uns über den Mann sagen?«
Faith betrachtete ihre Hände, ehe sie antwortete. »Sie müssen wissen, dass Stephanie und ich uns in dieser Beziehung nicht sehr nahestanden. Ich wusste, dass sie sich mit jemandem traf, aber sie hat ihn nie mit nach Hause gebracht. Sie war in vieler Hinsicht ein sehr verschlossenes Mädchen. Schon als kleines Kind.«
»Fällt Ihnen noch etwas ein, das uns helfen könnte?«
Faith Chandler schaute Jessica mit glänzenden Augen an. Jessica hatte diesen Blick schon oft gesehen – ein Blick, in dem sich Wut, Schmerz und Trauer mischten. »Als Jugendliche hatte sie eine ziemlich wilde Phase«, sagte Faith. »Zu Collegezeiten.«
»Wild?«
Faith zuckte wieder die Schultern. »Eigenwillig. Sie war mit einer ausgeflippten Clique unterwegs. Als sie dann diesen Job bekam, wurde sie ruhiger.« In ihrer traurigen Stimme schwang Stolz mit. Sie trank wieder einen Schluck.
Byrne warf Jessica einen raschen Blick zu. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der Fernsehecke zu. Jessica folgte seinem Blick zu dem TV-Schrank, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Er schien aus teurem Holz gearbeitet zu sein, vielleicht Rosenholz. Die Türen waren einen Spalt geöffnet, sodass man einen Flachbildschirm erkennen konnte. Darüber standen eine Stereoanlage und ein Videogerät, die beide garantiert auch nicht billig gewesen waren. Jessica schaute sich im Wohnzimmer um, während Byrne die Befragung fortsetzte. Die Einrichtung, die Jessica auf den ersten Blick als gepflegt und geschmackvoll eingestuft hatte, war obendrein teuer, wie sie jetzt feststellte: Thomasville-Möbel im Esszimmer und Wohnzimmer, Stiffel-Lampen.
»Dürfte ich mal Ihre Toilette benutzen?«, fragte Jessica. Sie war in einem ähnlichen Reihenhaus aufgewachsen und wusste, dass das Bad im ersten Stock lag. Und da wollte sie hin.
Faith starrte sie mit ausdruckslosem Blick an, als hätte sie die Frage nicht verstanden. Dann nickte sie und zeigte auf die Treppe.
Jessica stieg die schmale Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Rechter Hand lag ein kleines Schlafzimmer, geradeaus das Bad. Jessica spähte die Treppe hinunter. Faith Chandler saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch. Jessica huschte ins Schlafzimmer. Ja, es war
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