Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Das kleine Mädchen war jetzt eine tote Frau und lag erkaltet in einem grauen Marmorraum in der Stadt.
Faith hob das Glas an die Lippen. Ein paar Tropfen Whiskey fielen auf ihren Schoß. Sie versuchte es erneut. Sie schluckte. Die unsäglichen Schmerzen der Trauer, der Schuld und des Bedauerns loderten in ihr auf.
»Stephie«, murmelte sie.
Sie nahm das Glas wieder in die Hand. Diesmal half er ihr, es an ihre Lippen zu führen. Gleich würde er ihr helfen, aus der Flasche zu trinken.
40.
Als Jessica die Broad Street hinaufging, dachte sie über die Art dieser Verbrechen nach. Sie wusste, dass Serienkiller im Allgemeinen große Mühe oder zumindest eine gewisse Mühe auf sich nahmen, um ihre Taten zu verschleiern. Sie legten die Leichen an ausgefallenen Orten und auf fernen Friedhöfen ab. Der Filmemacher hingegen stellte seine Opfer in den Wohnzimmern der Stadtbewohner geradezu öffentlich zur Schau.
Sie wussten alle, dass der Fall nun eine vollkommen andere Dimension angenommen hatte. Um das zu tun, was sie in Psycho gesehen hatten, musste ungeheure Wut im Spiel gewesen sein. Doch jetzt stand fest, dass nicht nur Wut, sondern auch eiskalte Absicht dahintersteckte.
Jessica hätte Kevin liebend gern angerufen, um ihn über den neuesten Stand der Dinge zu informieren und seine Meinung zu hören, doch sie hatte die strikte Anweisung erhalten, ihn im Augenblick nicht mit den Ermittlungen zu behelligen. Der Arzt hatte nur seine bedingte Arbeitsfähigkeit bescheinigt, und die Stadt führte im Augenblick zwei Zivilprozesse in Millionenhöhe, in denen es um Polizisten ging, die zu früh in den Dienst zurückgekehrt waren. Die Ärzte hatten die Polizisten in den beiden Fällen offenbar zu früh gesundgeschrieben. Einer hatte sich den Lauf seiner Waffe in den Mund gesteckt, ein anderer war bei einer Drogenrazzia niedergeschossen worden, weil er nicht weglaufen konnte. Es standen ausreichend Detectives zur Verfügung, und Jessica war angewiesen worden, mit den Dienst habenden Kollegen zusammenzuarbeiten.
Sie dachte an den Blick der jungen Frau in Eine verhängnisvolle Affäre, den Wechsel von Wut zu Angst und lähmendem Entsetzen. Sie dachte an die Waffe, die plötzlich im Bild auftauchte.
Aus irgendeinem Grunde dachte sie vor allem an das T-Shirtkleid. Ein solches Kleid hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Als Jugendliche besaß sie ebenso wie all ihre Freundinnen selbst ein paar davon. Sie waren große Mode gewesen, als sie zur Junior-Highschool gewechselt war. Jessica dachte daran, was für eine gute Figur sie in jenen Jahren der Teenager-Cliquen mit den schrägen Klamotten gehabt hatte und wie das Kleid ihre Hüften betont hatte, worauf sie heute liebend gern verzichtete.
Vor allem aber dachte sie an das Blut, das sich vorne auf dem Kleid der Frau ausbreitete. Diesem blutroten Wundmal, das sich in Windeseile auf dem nassen weißen Stoff bildete, haftete etwas Gottloses an.
Als Jessica sich der City Hall näherte, fiel ihr etwas auf, das sie in weit höherem Maße beunruhigte und ihre Hoffnung auf eine rasche Lösung des Falles begrub.
Es war ein heißer Sommertag.
Fast alle Frauen in Philadelphia trugen weiße Kleidung.
***
Jessica stöberte in den Regalen mit den Kriminalromanen und blätterte ein paar Neuerscheinungen durch. Sie hatte schon lange keinen guten Krimi mehr gelesen, denn seitdem sie bei der Mordkommission arbeitete, fehlte ihr das Verständnis dafür, sich mit der Lektüre von Kriminalgeschichten die Zeit zu vertreiben.
Jessica stand in dem großen, mehrstöckigen Borders in der South Broad Street, gleich neben der City Hall. Sie hatte beschlossen, das Mittagessen heute ausfallen zu lassen und stattdessen spazieren zu gehen. Onkel Vittorio verhandelte mit ESPN2 über die Ausstrahlung eines ihrer Boxkämpfe, was bedeutete, dass sie in Kürze zu einem Fight antreten würde – und das wiederum bedeutete, dass sie das Training wieder aufnehmen und auf Cheesesteaks, Teegebäck und Tiramisu verzichten musste. Seit fünf Tagen war sie nicht mehr gelaufen, und darüber ärgerte sie sich maßlos. Es gab zahlreiche gute Gründe fürs Joggen, und einer davon war, den Stress im Job abzubauen.
Für alle Cops war die Gewichtszunahme eine ständige Bedrohung. Das hatte mit den Überstunden und dem ständigen Druck zu tun, und da war es oft bequemer, sich von Fastfood zu ernähren. Vom Alkohol ganz zu schweigen. Für die Frauen in dem Job war es noch schwieriger. Jessica kannte viele Kolleginnen, die
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