Byzanz
sehen konnte, zur Hölle fahren würde. Mochte die Russin im Moment die Stärkere sein, entschied am Ende die einfache biologische Frage, wer länger lebte. Bei diesem Gedanken wurde das Mohnkuchengesicht der Amme noch etwas runder.
Von diesem Tag an war Jaroslawa nur noch mit ihrem Sohn zusammen.
»Schwöre, Mehmed, dass du mit niemandem und niemals in deinem Leben darüber sprechen wirst, was ich dir jetzt erzähle. Es wäre dein Tod. Verschließ es fest in deinem Herzen und schrei es nicht einmal in einem Albtraum heraus. Zu keinem ein Wort, mag er oder sie dir noch so vertraut dünken, nicht einmal zu Daje-Chatun«, sagte sie eines Morgens zu ihm. Der Junge sah sie erstaunt an. »Schwöre!«
»Ich schwöre«, sagte Mehmed mit piepsiger, dennoch ernster Stimme und glänzenden Augen.
Von da an erzählte sie dem Jungen ihre Geschichte und die ihrer Vorfahren in allen Einzelheiten, obwohl er sich noch nicht in dem Alter befand, in dem man dieserart Geschichten erzählt bekommen durfte. Und sie wusste, was sie ihrem Sohn antat, dass sie sein Empfinden zu früh dem Gift der Welt aussetzte. Es brach ihr fast das Herz, ihm von dem Überfall, von dem Tod der Eltern, ihrer Vergewaltigung und Anatolijs Kastration zu erzählen. Jedes Detail, das sie beschrieb, peinigte sie, weil sie sah, wie sehr sie damit die Kinderseele in ihrer tiefsten Unschuld traf. Bald schon schrie Mehmed im Schlaf, und er nässte auch wieder das Bett. Aber sie verfügte nicht über den Luxus, abwarten zu können, bis er alt genug wäre, um alles über seine Herkunft zu erfahren und darüber, wie die Welt funktionierte. Sie wusste, dass sie seine Seele verletzte, sie vergewaltigte. Immer wenn sie aufhören oder sensibler vorgehen wollte, sah sie auf das Blut in ihrem Taschentuch. Auch sie hatte sich einst als eine Prinzessin gefühlt, wie er jetzt ein Prinz war. Was sie lernen musste, war, dass das noch gar nichts besagte.
»Damit dir all das erspart bleibt, musst du Sultan werden, ein großer und mächtiger Herrscher. Der mächtigste Herrscher auf der Welt. Weißt du denn, wie der mächtigste Herr ist?«, fragte sie Mehmed eines Morgens.
»Wie mein Vater, wie Murad.«
Jaroslawa lachte böse auf. »Dein Vater? Nein. Ein tüchtiger Herrscher ist er vielleicht, mit Sicherheit ein mittelmäßiger Mensch, aber kein Herr der Herren, kein Weltenherrscher.«
»Und wie ist ein Weltenherrscher?«, fragte der Junge mit großen Augen. Jaroslawa stand auf und holte aus einer mit Edelsteinen besetzten Truhe ein Buch. Sie gab es ihm. Er schlug es auf und las ehrfürchtig: »Nisami: ›Alexander der Große‹.«
»Alexander der Große kam aus einem kleinen griechischen Stamm und hat die Welt erobert, bis nach Indien. Lerne von ihm. Du kannst so werden wie er, du hast das Talent dazu. Tu es für deine Großeltern, die man hingeschlachtet hat, tu es für mich, tu es für dich. Und sei grausam! Es ist nicht schön, aber die Welt ist so, mein kleiner Sultan. Wer Milde zeigt, gilt als schwach, wer als schwach gilt, wird getötet. Mitleid existiert nicht auf der Welt und auch keine Gerechtigkeit, erst recht keine Menschlichkeit. Die Mörder umgeben sich mit dem Anschein der Menschlichkeit, sie tun es für sich. Die Räuber möchten gern als barmherzig gelten. Sie plündern die Menschen erbarmungslos aus und schenken ein paar Bedürftigen ein Almosen, nichts im Vergleich zu dem, was sie zuvor ihnen geraubt haben. Mein Sohn, glaube niemandem, das Grundgesetz der Welt ist die Lüge. Warte hier und lies.« Damit ließ sie ihren Sohn allein, kam aber schon bald zurück. »Geh doch mal bitte und sage der Amme, sie soll zu uns kommen.« Mehmed sprang auf und lief auf den Gang. Als er um die Ecke bog, blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen. An der Wand zeichnete sich der Schatten eines großen Tieres ab, das ihm auflauerte. Als das Tier sich erhob, sein schreckliches Maul öffnete und bis an die Decke reichte, lief der Knabe, der bis dahin tapfer ausgehalten hatte, schreiend in das Zimmer seiner Mutter zurück.
»Mama, Mama, da ist ein Ungeheuer«, stotterte er schwitzend, die Augen starr vor Panik. Jaroslawa packte ihn bei der Hand und schleifte ihn mit sich auf den Gang. Der Knabe wehrte sich mit Händen und Füßen. »Nein, nein, nein«, schrie er, und seine Stimme verriet Todesangst. Er drückte fest die Lider zu. Plötzlich blieb die Mutter stehen. »Öffne die Augen, komm, mach schon«, befahl sie ihm. Vor ihm lag ein kleiner Hund. Mehmed staunte und verstand
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