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Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
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ist das mit dem Menschen, dachte sie traurig. Ein halbes Leben lang denkt man, dass unendlich viel Zeit vor einem liegt, und dann kommt man plötzlich ohne Vorwarnung zu der Erkenntnis, dass der größte Teil des Lebens bereits verbraucht ist. Mit dieser Einsicht konnte man sich durchaus für eine geraume Zeit in sanfter Melancholie einrichten, wenn die Frist zum Ende hin einer vagen, verlängerbaren Vermutung glich, aber der Blick auf ihren blutigen Auswurf belehrte sie, dass der Tod bereits anklopfte. Dabei hatte sie ihrem zwölfjährigen Sohn noch so viel beizubringen! Natürlich konnte sie den Himmel oder Gott dafür anklagen – Gerechtigkeit kannte keiner von beiden –, aber all das würde zu nichts anderem führen, als dass sie Zeit verschwendete, ihre Zeit, vor allem aber die Zeit ihres Sohnes. Ihr ganzer Plan zielte darauf ab, dass sie eines Tages die mächtige Mutter eines Sultans sein würde und ihren Sohn beraten konnte. Diese Karte hatte ihr das Schicksal durch die Schwindsucht unbarmherzig aus der Hand geschlagen.
    Sie sah aus dem Fenster und beobachtete Mehmed, der unter der Aufsicht der Amme im Garten spielte. Er saß auf einem Steckenpferd und vertrieb mit erhobenem Schwert die Ungläubigen aus dem Garten. Seine ganze Gestalt strahlte knabenhaften Eifer aus. Jaroslawa musste lächeln und griff unwillkürlich an die Stelle über ihrer Brust, wo unter dem Chiffon das Silberkreuz hing, das ihr der Vater einst umgehängt hatte. Dabei hatte er gelächelt und gesagt: »Jaroslawa, maja ljubimaja«  – meine Liebe. Nie in ihrem Leben würde sie den dunklen, warmen Klang seiner Stimme vergessen. Ihn hatte Gott nicht geschützt, ihre Mutter auch nicht, und sie? Gott war für sie ein Verräter, und sein Name lautete nicht Jahwe, sondern Judas. Nicht mehr lange würde sie ihren Sohn vor der Wolfswelt behüten können. Wer würde dann für ihn da sein? Niemand, nikto, nischewo  – keiner, was soll’s. Es trieb ihr Tränen in die Augen, mit welchem kindlichen Eifer er mit dem Holzschwert gegen die Christen zu Felde zog. Sie schaute wieder in den Spiegel und sah eine immer noch schöne Frau, die ihren fünfunddreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben würde. Noch immer anziehend, weniger fleischlich vielleicht, dafür graziler. Die kindlichen Rundungen waren verschwunden. Ihr Gesicht wirkte nun strenger, aber auch ätherischer durch die großen, mit einem Sphärenglanz überzogenen Augen über den hohen slawischen Jochbeinen, die ihrer Miene eine erregende Melancholie verliehen.
    Eines wurde ihr in diesem Augenblick bewusst: Die Wochen und vielleicht Monate, die ihr noch verblieben, musste sie nutzen, um ihrem Sohn den Weg zu ebnen. Das hieß, den anderen Sohn des Sultans aus dem Weg zu räumen und Mehmed zur Herrschaft zu befähigen. Die Erkenntnis schnitt ihr wie ein Schustermesser ins Herz, dass der Preis dafür, dem Sohn das Leben zu retten, im Verlust seiner Kindheit bestand. Nie wieder würde er so unschuldig töten wie in diesem Spiel. Schweren Herzens, aber kalten Verstandes schmiedete Jaroslawa einen Plan.
    Eines Abends lud sie Daje-Chatun in ihr Zimmer. Sie hatte Tee, ein wenig Obst und etwas Gebäck servieren lassen. Nachdem sie ihren gesundheitlichen Zustand geschildert hatte, bat sie die Amme, ihr keine Steine in den Weg zu legen, wenn sie die wenige Zeit, die ihr blieb, mit ihrem Sohn verbringen wollte, nicht allein aus Eigennutz, sondern auch aus Notwendigkeit.
    »Du bist jetzt schon mehr mit ihm zusammen als ich. Mehmed wird älter und wird sich bald schon nach der Gesellschaft von Männern sehnen«, wandte die Amme ein.
    »Willst du, dass Mehmed Sultan wird?«
    »Das weißt du doch!«, entgegnete sie vorwurfsvoll. Ihr rundes Mohnkuchengesicht wirkte tief beleidigt.
    »Dann tu, was ich dir sage!« Jaroslawa verlor die Geduld, weil sie die Schwäche spürte, die sie von innen heraus zu lähmen begann. Dennoch rang sie sich ein Lächeln ab. »Ich habe wirklich keine Zeit, und er muss Dinge lernen, von denen du nichts weißt.« Obwohl die Amme die Russin immer noch hasste, vielleicht sogar mehr als früher, sagte ihr die Intuition, dass Jaroslawa die Wahrheit sagte. Also unterdrückte sie ihren Ärger und stimmte widerwillig zu, mit dem kleinen Triumph, dass sie diese verhasste Person überleben und bald schon die Mutter für den Knaben sein würde. In dem Schmerz der Amme, dem Weibsstück gehorchen zu müssen, steckte der Trost, dass die Rivalin um die Gunst des Kindes bald schon, wie sie

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