Cadence Jones ermittelt - Davidson, M: Cadence Jones ermittelt
geschlüpft war und den Schauplatz betreten hatte. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Niemand mag hören, dass die Jagd auf ihn eröffnet ist. Und wenn die Jäger auch noch die eigenen Kollegen sind …
»Na ja, wenn es ihm nur gut geht.«
»In der Tat.« Michaela begab sich in die Speisekammer und kam mit zwei Baguettes wieder heraus. Sie spülte das Messer, trocknete es ab und legte es dann in die Schublade, aus der sie ein Brotmesser holte. Methodisch begann sie, die Baguettes in Scheiben zu schneiden. »Wie ich bereits sagte«, – Hack. Hack. Schlitz – »hat Dr. Nessman während der Sitzung diesen Punkt mit meinem vollen Einverständnis angesprochen.« Schnitt. Schlitz. Hack. »Und obwohl für alle Beteiligten höchst unerfreulich, war Ihre Reaktion genau die, die wir auch erwartet hatten.«
»Ach ja? Unerfreulich für alle Beteiligten? Mensch, das ist aber schlimm. Na ja, solange niemand überrumpelt wurde. Höchstens vielleicht … keine Ahnung … ich?!?«
»Mh-mh. Und da ist Shiro natürlich mit fliegenden Fahnen zur Rettung herbeigeeilt, nicht wahr? Nun, genau das ist ja auch ihre Aufgabe. Ihnen zu helfen. Sie zu retten. Abgesehen davon, dass sie das vielleicht ein wenig zu häufig tut. Adrienne meldet sich inzwischen auch öfter.«
Diese Wendung unseres Gesprächs war mir vollkommen schnuppe. »Ja – und?«
Meine Chefin reagierte ausschließlich auf kalte, harte Fakten – Ironie registrierte sie gar nicht. »Die beiden anderen Persönlichkeiten kommen schneller hervor und bleiben auch länger. Und wieder einmal haben wir Ende Herbst – und das ist immer eine schwere Zeit für Sie.«
Was meinte sie nur damit? »Was meinen Sie damit?«
»Hören Sie: Es kann einfach nicht so weitergehen wie bisher.«
»Was?« Ich hatte schon ein Recht, verblüfft zu sein. Es konnte nicht so weitergehen wie bisher? Herbst? Was hatte der letzte Schlussverkauf denn mit all dem zu tun? Ich war so, wie ich war, seit ich mich erinnern konnte. Shiro und Adrienne waren immer schon da gewesen. Wir waren eine Familie. Eine verwirrte, mörderisch verrückte Familie mit Regierungsbezügen und dem Recht auf freies Parken.
»Ihr seid keine Familie.«
Hatte ich schon erwähnt, dass Michaela, wenn sie nicht gerade Karotten zu Julienne verarbeitete, Gedanken lesen konnte? Zumindest kam das vielen von uns so vor.
»Ich glaube, darüber weiß ich ein bisschen besser Bescheid als Sie«, sagte ich in einem unangemessen groben Ton. Verurteilen Sie mich bitte nicht! Ich war ganz schön durch den Wind. Ich darf doch ab und zu mal durch den Wind und infolgedessen auch ein wenig unhöflich sein?
Nicht wahr?
»Aber woher wollen Sie das wissen, Cadence? Sie hatten doch nie das, was man als typische Familie bezeichnet.«
»Dann arbeite ich ja am richtigen Ort, nicht wahr?« Ich ließ mich auf einen der Barhocker fallen, die vor der marmornen Küchentheke standen. »Niemand, der bei BOFFO arbeitet, könnte doch als typisches Dies oder Das bezeichnet werden.«
»Ihre Mutter hat Ihren Vater vor Ihren Augen ermordet, als Sie drei waren«, fuhr Michaela in einem schrecklich nüchternen Ton fort, während sie eine Möhre in einen Haufen orangefarbener Zahnstocher verwandelte. Wenn sie es darauf anlegte, mich aus dem Konzept zu bringen, dann würde sie keinen Erfolg haben. Ich hatte schon immer gewusst, dass meine Eltern ein wenig, na ja, ungewöhnlich waren.
»Sie sind im Minnesota Institute for Mental Health, also in einer Anstalt für Geisteskranke, geboren worden und aufgewachsen.«
»Sagen Sie mir auch mal etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Die meisten Insassen und die Hälfte des Personals haben Sie aufgezogen und wie ein eigenes Kind betrachtet. Ihre Vorstellung eines fröhlichen Thanksgiving besteht darin, dass nur zwei Menschen versuchen, vor dem Nachtisch Selbstmord zu begehen.«
»Das ist doch bloß ein einziges Mal passiert«, entgegnete ich hitzig, »und wer hätte ihnen deswegen Vorwürfe machen können? Die haben uns Kartoffelbrei aus der Tüte aufgetischt! Man kann schließlich nicht erwarten, dass so etwas ohne Folgen bleibt.«
»Wie gesagt, Dr. Nessman und ich, wir haben festgestellt, dass sich Ihre anderen Persönlichkeiten manifestieren, ohne durch die Therapiesitzung hervorgelockt zu werden. Cadence, können Sie sich überhaupt noch an eine Therapiesitzung erinnern, in der Sie eine ganze Stunde lang Sie selbst waren?«
»Fünfzig Minuten«, murmelte ich, immer noch wütend. Diese gehirnmeißelnden Trottel
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