Cafe con Leche
Chris hat ihre Stirnlampe raus gekramt und geht voran. Der Weg zum
Gipfel schlängelt sich gut zwei Kilometer steil nach oben. Die Höllenqualen auf
dem gestrigen Weg, die mich gedanklich näher dem Tod, als dem Leben brachten,
kommen mir wieder in den Sinn. Doch dann verdränge ich sie schnell, denn ich
möchte meinem inneren Schweinehund keine Chance zum Meckern geben. Heute ist
ein neuer Tag! Vom Herbergsvater haben wir erfahren, dass das Cruz de Ferro am
Gipfel in einer kleinen Senke liegt und deshalb beim Anstieg nicht zu sehen
sei.
Die Sonne geht hinter
uns auf dem Weg zum Gipfel auf.
So laufen wir durch
die Dunkelheit und Christine versucht ihr Glück, den Sonnenaufgang einzufangen.
Die Kamera wird gezückt und unzählige Fotos werden geschossen. Immer wieder
macht es klick. Nach fast zwanzig Fotos geht es endlich weiter. Als wir den
Gipfel erreichen, stehen wir auf dem höchsten Punkt des Caminos. Ein hoher
Hügel von Steinen und mittendrin ein etwa fünf Meter hoher Holzmast, an dem ein
Eisenkreuz befestigt ist, türmt sich vor uns auf. Kleine Hügel von Steinen, die
Pilger errichtet haben, waren schon des Öfteren am Wegesrand zu sehen. Aber der
hier ist gigantisch!
Cruz
de Ferro — Sorgenhügel aller Pilger
Fast andächtig bleibe
ich davor stehen. Andere Pilger sind auch schon unterwegs und erklettern den
Steinhaufen, um sich fotografieren zu lassen. Ich werde da nicht hoch klettern!
Das bringe ich nicht übers Herz. Hat nicht jeder Pilger, der hier einen Stein
ablegt, sein innigstes Anliegen damit verbunden? Darauf mit meinen Füßen herum
trampeln, kann und möchte ich nicht. So bleibe ich davor stehen und suche nach
einem für mich passenden Stein. Mit diesem Stein in der Hand gehe ich zum
Steinhügel zurück. Gott bittend, meine Sorgen bei ihm lassen zu dürfen, werfe
ich den Stein seitlich zur Spitze des Steinhügels. Sodass nicht jeder sofort
darauf treten kann. Christine hat ihren Stein schon abgelegt. Wir machen wieder
Fotos.
Dennis
mit Chris, ich mit Dennis, Chris mit mir, wir Drei zusammen.
Anschließend
setzen wir uns in die kleine Kapelle, die am Wegesrand auf dem Platz steht. Es
ist still und jeder ist mit sich alleine. Nach ungefähr fünf Minuten brechen
wir auf. Es geht weiter nach Manjarín. Chris plaudert mit Dennis, ich laufe mal
wieder in Gedanken versunken hinterher.
„Hallo!
Gehört einem von euch dieser Hut?”, höre ich jemanden hinter mir rufen.
Automatisch drehe ich mich um. Ein junger Bursche kommt auf uns zu und hält
einen Hut in der Hand. Es ist Christines Hut. Er muss sich wohl unterwegs von
ihrem Rucksack gelöst haben. Dankbar nimmt Chris ihn entgegen und sofort kriege
ich einen leichten Rüffel.
„Mama!
Du hättest ja auch mal auf meinen Hut achten können!”
„Ja,
sag mal Chris! Mir ist gar nicht aufgefallen, dass der weg ist. Ich laufe doch
nicht auf deinen Hut stierend hinter dir her!”
„Aber
du läufst doch die ganze Zeit hinter mir. Da hättest du doch sehen müssen, dass
mein Hut nicht mehr an dem Rucksack hängt.”
Jetzt
wird es mir zu bunt! „Christine! Das ist doch jetzt egal! Hauptsache ist doch,
dass du deinen Hut wieder hast. Oder? Sei nicht immer sofort so ungehalten. Du
kannst auch mal Fünfe gerade sein lassen! Sollen wir uns jetzt wegen des Hutes
streiten?”
„Nein”,
kommt kleinlaut zurück. „Ist schon in Ordnung. Ich hätte den besser festzurren
sollen!”
Sie
bindet den Hut wieder an ihrem Rucksack. Diesmal mit doppeltem Knoten. Auf dem
Camino geht nichts verloren. Der Hut ist wieder da und Brian ist auch wieder
da. Dann ist ja alles in Ordnung! Wir erreichen Manjarín und sehen einen bunten
Wegweiser. Auf Holzplanken sind Städtenamen aufgemalt oder teilweise eingeritzt.
Rom, Trondheim, Jerusalem, Mexiko, Finisterre, San Diego, Machu Picchu... Die
Entfernung steht jeweils in Kilometerangabe hinter den Städtenamen. Natürlich
zücken wir sofort die Kamera und die Fotos sind im Kasten. Ein Mann in einem
Kettenhemd, wie es früher die Ritter trugen, kommt uns entgegen. Das sieht
schon befremdend aus und das Mittelalter fällt mir ein. Aber auf dem Camino
wundert mich nichts mehr. Jeder so, wie er will!
Dennis
meint: „1990 hat ein Mann, der sich in der Nachfolge der Tempelritter sah, hier
eine einfache Herberge gegründet.”
„Und
wer waren die Tempelritter?”, frage ich in meiner Naivität.
„Eigentlich
heißen sie Arme Ritterschaft Christi vom salomonischen Tempel“,
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