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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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paar Schritte mehr hätten ihr genügt. Doch eine der elf Kugeln, die von irgendwo zurückprallte, hat ihr die Leber zerfetzt.
    Sie war nicht sofort tot, und vielleicht hat sie noch gesehen,
wie dieser Fisch, so hässlich wie ein Trickfilmmonster, auf sie zuschoss. Ich wünsche mir, sie hat nicht genug Zeit gehabt zu denken, dass dieses Monster sie mitnehmen wollte.
    Denn auch das Monster starb auf dem Bürgersteig.
    Das Monster war nur ein Fisch.
    Fleisch. Fotos von Nunzia, die anderthalb Jahre jünger war als Caterina, gibt es nicht. Man hat Nunzia ins Krankenhaus gebracht, man hat versucht, sie zu retten. Es heißt, Nunzia war ein hübsches Mädchen, groß und für ihr Alter sehr entwickelt. Jedenfalls hat man sie, wie man im Artikel einer Tageszeitung lesen kann, mit dem Firmkleid einer elfjährigen Cousine in den Sarg gelegt. Nunzia wollte sich hinter parkenden Autos in Sicherheit zu bringen. Sie war beherzt, schnell, hat das Richtige getan. Doch Capuano tat das Gleiche.
    Warum muss ein achtjähriges Mädchen sterben, obwohl es das Richtige getan hat? Manch einer behauptet, dass Capuano sie als Schutzschild benutzt hat, doch darüber gehen die Zeugenaussagen auseinander.
    Die einzige Antwort finde ich im Bericht des Ballistikexperten. Thv-Projektile, wobei Thv für très haute vitesse steht, verlassen den Lauf einer Pistole, wie ihr Name schon sagt, mit sehr hoher Geschwindigkeit, nämlich 600 Meter in der Sekunde. Auf den Fotos der Berichte sieht man, dass sie an der geriffelten Spitze mit geschwärztem Teflon überzogen sind. Ihre größere Schnelligkeit bedeutet auch, dass ihre kinetische Energie länger hält und damit auch ihre Geschossbahn länger ist. Der Schütze vom Corso Due Sicilie wusste, dass er sich dem Ziel nicht nähern konnte, dass er nicht vom Motorrad absteigen konnte, dass er in Feindesland war und schnell, sehr schnell machen musste.
    Das Thv-Projektil, das unter dem rechten Auge Nunzias eingedrungen ist, war vielleicht schon von der Mauer oder dem Telefonhäuschen zurückgeprallt und hatte an kinetischer Kraft verloren. Da es auch leichter als normale Projektile ist, konnte es in weiches Gewebe eindringen, aber nicht den Schädel durchbohren, um wieder auszutreten. Es war
schlimmer. Wie ein kleiner Wurm hat es sich einen Tunnel durchs Hirn gegraben und ist dabei der Krümmung der Schädeldecke gefolgt. Und dann ist es dort stecken geblieben.
    Sie haben ihr die Kugel in derselben Nacht nach dreistündiger Operation entfernt. Nunzia lag fast vier Tage im Koma, aber sie hat es nicht geschafft. Überdies waren die durch die Schussverletzung verursachten Schäden äußerst schwerwiegend und irreversibel, höchstwahrscheinlich wäre sie blind und taub geblieben. Daran muss ich mich klammern, um einen Trost zu finden, für den ich mich schäme.
    Dieses Mädchen wollte nicht kämpfen, um in einer dunklen und öden Welt zu leben.
    Die Gnostiker dachten, dass Gott ein unendlicher, dunkler Abgrund sei, ein kalter und unergründlicher Vater. Doch das ist Philosophie (verzeih mir, Nunzia, verzeih mir auch du, Caterina).
    Ich bin einfach todmüde, vielleicht sollte ich weinen, doch dieser ganze brennende Schmerz, diese ganze Nacht, diese ganze Stille um mich herum haben meine Augen trocken werden lassen.
    Die Augen, sicher, aber auch anderes, in meinem Inneren.
    So weit drinnen, dass ich selbst nicht weiß, wie es erreichen.
     
    Ich merke, dass ich eingeschlafen bin, als mich Geschrei aus dem Stockwerk unter mir weckt.
    Es ist Viertel vor acht, und ich habe mich unter einem Tuch zusammengekauert, den Kopf auf der Couchlehne, was bedeutet, dass ich in den nächsten Tagen einen steifen Hals haben werde.
    Ich höre mir das Geschrei an, um mir darüber klar zu werden, dass ich wirklich wach bin. Heftiger Krach.
    Manchmal leide ich gar nicht darunter, allein zu sein. Im Gegenteil.
    Eine Stunde Schlaf auf der Couch ist schlimmer als gar kein Schlaf. Ich stehe auf und wanke Richtung Dusche, lasse T-Shirt,
Hose und Slip unterwegs fallen. Als ich die Dusche abstelle und in den Bademantel schlüpfe, haben sie sich wider Erwarten noch immer nicht beruhigt, sonder schreien sogar noch lauter als vorher. Ich hoffe, sie zerfleischen sich nicht, oder wenigstens nicht heute Morgen.
    Ich lasse die Finger über die Tastatur des Notebooks gleiten, und wieder erscheint das grüne Gespenst mit den leuchtenden Augen, dem ich die ganze Nacht lang versucht habe, einen Namen zu geben. Das vom Restaurantbesitzer geschossene Foto

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