Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Patienten nichts versprechen und ihn über seine unheilbare Krankheit auch nicht länger täuschen will. Ein schlechterer Publikationszeitpunkt und ein unpassenderes Verlagsumfeld für diesen Essay über das heroische Ertragen des Unvermeidlichen hätten sich kaum finden lassen.
Doch die radikale Hoffnungslosigkeit ist nicht sein letztes Wort: Auf seinem Zauberberg in Le Panelier arbeitet Camus bereits an einem sehr viel weniger schicksalsergebenen Buch, dem Roman
Die Pest
. Sorgsam, wie ein geduldiger Handwerker seinem einmal gefassten Arbeitsplan folgend, baut er an der zweiten Etage seines Werks. Wohnen in der ersten, die im Wesentlichen in der Vorkriegszeit entstanden ist, die Hoffnungslosigkeit, die Desillusion und das Absurde – Begriffe seiner Jugend, in denen der Geist der Jahrhundertwende, des Ennui, der Umwertung aller Werte und der Avantgarden des Ersten Weltkriegs nachklingt –, so handelt nun der zweite Werkszyklus, der mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenfällt, von Revolte, Widerstand und Kampf.
Das Bild von den Stockwerken ist insofern ein wenig irreführend, als im Werk Camus’ fehlt, was im Hausbau selbstverständlich ist – die Treppe. Wie gelangt Camus von der Gleichgültigkeit zur Revolte? Wie vom stolzen Fatalismus des
Sisyphos
zum Widerstand des Résistance-Kämpfers gegen die braune «Pest»?
Auf einem undatierten Blatt hat Camus mit Bleistift einen stenographischen Miniaturessay hinterlassen, in dem er die gegensätzlichen Pole seines Denkens zusammenführt:
«Das Leben hinnehmen, so wie es ist? Dumm. Mittel, es anders zu machen? Wir sind weit entfernt davon, das Leben zu beherrschen, das Leben ist es, das uns beherrscht und uns bei jeder Gelegenheit das Maul stopft.
Das menschliche Schicksal hinnehmen? Im Gegenteil, ich glaube, dass die Revolte zur menschlichen Natur gehört.
Es ist eine finstre Komödie, so zu tun, als ob man bereit wäre, das zu akzeptieren, was uns auferlegt ist. Es geht vor allem darum zu leben. So viele Dinge sind es wert, geliebt zu werden, und es ist lächerlich, so zu tun, als ob man nur den Schmerz lieben könnte.
Komödie. Verstellung. Man muss aufrichtig sein. Aufrichtig um jeden Preis, auch wenn es uns schadet.
Also weder Revolte noch Verzweiflung. Das Leben, mit allem, was dazugehört. Wer gegen das Leben revoltiert oder es nur erduldet, verschließt sich vor ihm. Reine Illusion. Wir sind im Leben. Es schlägt uns, es verletzt uns, es spuckt uns ins Gesicht. Es erleuchtet uns auch mit einem plötzlichen und verrückten Glück, das uns teilhaben lässt. Das dauert nicht lange. Aber es reicht. Man soll sich nicht täuschen: Der Schmerz ist da. Kann man nicht leugnen.
Vielleicht ist in unserem tiefsten Inneren der wesentliche Teil des Lebens. Unsere Widersprüche. Die Mystiker und J.-C. Liebe. Vereinigung. Sicherlich, aber wozu Worte darum machen? Bis später.» [167]
Ein emphatisches, auch kryptisches Manifest, das alle Widersprüche unter dem flussdeltaartigen Großbegriff «Leben» vereint: Die Revolte ist sinnlos, aber sie gehört zur Natur des Menschen. Meursault findet sein Glück in der Gleichgültigkeit, Doktor Rieux im Kampf. All das gehört zum «Leben» – dieser fundamentalen Kategorie im Denken Camus’, entscheidender noch als das Absurde oder die Revolte, die beide lediglich Ausdrucksweisen dieses «Lebens» sind. Im «Leben» existiert alles, was Vernunft und Ratio unterscheiden und hierarchisieren, neben- und durcheinander: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Man ist immer und überall im Leben. Es überfällt uns mit einem plötzlichen verrückten Glück, und es quält uns mit seiner sinnlosen Willkür. Anders als in der nietzscheanischen Lebensphilosophie, der Camus’ Denken die entscheidenden Impulse verdankt, ist das «Leben» bei Camus kein nach Macht verlangender Vitaltrieb oder «Wille», sondern ein kosmisches Urgeschehen, dem keine Dynamik der Steigerung innewohnt. Der «Wille zur Macht» – Nietzsches philosophische Metapher für die Selbststeigerungstendenz des Lebens – ist für den «Griechen» Camus eine zu deutsche Angelegenheit, wie überhaupt der französische Nietzscheanismus den fröhlichen, den spielenden, den irisierenden Nietzsche bevorzugt und, anders als die deutsche Schule, vom Pathos des Übermenschen unbeeindruckt bleibt. Für Camus lauert an der äußersten Grenze des Horizonts ein unauflösliches Geheimnis: der ewig gleiche, grausam ungerührte Kosmos, der nur in seltenen, überwältigenden
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