Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Flur. Marcus Jacobsen kam ihm entgegengerannt.
Das war dermaßen traurig und gleichzeitig so rührend, dass Carl sich die Augen wischen musste.
»Marcus, wir können genauso gut sofort zum Präsidium fahren«, schlug Carl vor. »Ich kann jetzt unmöglich nach Hause, es gibt so viel, was erledigt werden muss.«
Marcus Jacobsen blickte in den Rückspiegel und rückte ihn leicht zurecht.
»Hm, merkwürdig, wie lange dieser Wagen schon hinter uns herfährt«, sagte er. Dann sah er Carl an. »Ja, ich versteh dich. Aber auch Helden müssen mal schlafen. Und essen und trinken.«
»Okay, du kannst gerne einen Gammel Dansk ausgeben, wenn wir dort sind. Das mit dem Schlafen und Essen ist ja schön und gut, aber es muss warten.«
In knappen Worten fasste er für den Chef die Geschehnisse des Tages zusammen, da kam er jetzt nicht mehr drum herum.
»Ich hatte euch doch strikt untersagt, euch Curt Wad zu nähern, Carl! Jetzt schau, was passiert ist!«
Carl nickte. Der Kommentar war nicht unangebracht, soviel musste er zugeben.
»Aber gut, dass du nicht auf mich gehört hast«, fuhr Jacobsen fort.
Carl sah ihn an. »Danke, Marcus.«
Der Chef schien ein bisschen auf seinen nächsten Worten herumzukauen. »Es gibt ein paar Leute, mit denen ich mich erst unterhalten muss, ehe du mit der Sache weitermachen kannst, Carl.«
»Tja, ich fürchte nur, dass ich nicht so lange warten kann.«
»Dann muss ich dich leider suspendieren, Carl.«
»Wenn du das tust, kommen all diese Schweine mit dem, was sie getan haben, davon.«
»Womit, Carl? Mit dem Überfall auf dich? Mit dem, was sie Assad angetan haben? Oder meinst du diese alten Verbrechen? Oder das, worauf sie ihre neue Partei gründen?«
»Ich meine alles!«
»Ich werde dir jetzt etwas sagen, Carl. Wenn du nicht wartest, bis ich den Fall mit einigen Leuten erörtert habe, dann werden Curt Wad und Konsorten mit einer ganzen Reihe von Verbrechen davonkommen! Damit würdest du das Gegenteil von dem erreichen, was du willst! Können wir uns nicht darauf einigen, dass du hier im Büro bleibst, bis ich Bescheid gebe?«
Carl zuckte die Achseln. Damit hatte er nicht zu viel gesagt.
Sie stellten den Wagen im Parkhaus des Präsidiums in der Hambrosgade ab. Versonnen standen die beiden Männer einen Moment vor dem Betonbau, sahen über die Straße zum Präsidium und überdachten die zurückliegenden Geschehnisse.
»Carl, hast du mal eine Zigarette?«
Carl dachte kurz an die Nikotinkaugummis seines Chefs und musste grinsen. »Ja, hab ich, nur hab ich kein Feuer.«
»Aber ich, Augenblick«, sagte Marcus. »Im Handschuhfach habe ich ein Feuerzeug.«
Er drehte um, war aber noch keine zwei Schritte weit gekommen, als ein dunkler Wagen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor schräg gegenüber beim Präsidium geparkt hatte, urplötzlich beschleunigte und direkt auf sie zu raste.
Nachdem der Wagen den Kantstein gerammt hatte, stellte er sich fast senkrecht und drohte zu kippen. Carl warf sich zur Seite und rollte auf den Bürgersteig. In seinen Ohren dröhnte das Krachen von Metall. Mit kreischenden Bremsen stoppte der Wagen, mit knirschendem Getriebe wurde der Rückwärtsgang eingelegt. Es stank nach verbranntem Gummi von den durchdrehenden Reifen.
Sie hörten den Schuss zwar, wussten aber nicht, aus welcher Richtung er abgegeben worden war. Sie registrierten lediglich, dass sich der Kurs des Wagens geändert hatte, er schien außer Kontrolle zu sein, fuhr aber weiter schräg über die Fahrbahn und krachte mit aller Wucht in das parkende Fahrzeug eines Zivilbeamten.
Erst jetzt sahen sie den Motorradpolizisten, der in voller Montur und mit gezogener Pistole vom Präsidium herübergerannt kam, und Carl hörte zum ersten Mal, wie viele Flüche und Verwünschungen der Chef der Mordkommission binnen weniger Sekunden ausstoßen konnte.
Während der Pressesprecher und Marcus Jacobsen die Journalisten in Schach hielten, checkte Carl die Daten des Attentäters. Natürlich trug der keine Papiere bei sich, aber Carl brauchte nur kurz ein Foto des Mannes herumzuzeigen, dessen Hals ein kugelrundes Einschussloch zierte, und schon hatte er den Namen.
»Das ist Ole Christian Schmidt«, antwortete ein Kollege vom Dezernat C im zweiten Stock, und mit dem Namen wusste auch Carl etwas anzufangen. Ein früherer Aktivist der Rechten, vor Kurzem aus dem Knast entlassen. Zweieinhalb Jahre hatte er gebrummt wegen schwerer Körperverletzung, einmal gegen eine Frau, Vorstandsmitglied
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