Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
entscheidenden Moment seines Lebens, vielleicht sogar dem entscheidendsten.
Carls Blick wanderte an den Wänden von Plougs Büro entlang, über anklagende Fotos von Tatorten - genug, um damit einen mittelgroßen Umzugskarton zu füllen.
»Okay«, grummelte er dann und fügte eine Oktave tiefer hinzu: »Aber ich fahre selbst!« Er würde sich doch nicht wie ein blinder Passagier in Plougs bakteriologische Mischmaschine hocken! Dann lieber zu Fuß gehen.
»Schön, dich zu sehen«, ließ sich Frau Sørensen vernehmen, als Carl kurze Zeit später am Tresen der Sekretärinnen vorbeistapfte, den Kopf voller Erinnerungen an jenen unglückseligen Tag, an dem Anker ums Leben gekommen war und Hardy für immer gelähmt wurde.
Wie bitte, was? Hatte ihn die alte Schachtel etwa gerade geduzt? Was hatte die denn getankt? Außerdem klang ihre Stimme irgendwie unheildrohend - nämlich fast sanft und entgegenkommend. Sicherheitshalber drehte sich Carl um, bereit zum verbalen Gegenangriff.
Sie stand nur zwei Meter von ihm entfernt, bot aber einen so andersartigen Anblick, dass es beinahe war, als hätte er ein unbekanntes Observierungsobjekt in hundert Metern Entfernung vor sich.
Es lag nicht daran, dass sie womöglich anders gekleidet gewesen wäre als sonst. Sie sah noch immer aus wie eine, die mit verbundenen Augen durch einen Secondhandladen gelaufen war. Was ihn beunruhigte, waren diese Augen und das dunkle, jetzt ziemlich kurze Haar, das auf einmal wie ein Lackschuh beim Hofball glänzte! Das Schlimmste jedoch waren zwei rote Flecken auf ihren Wangen, die sich nicht allein einem funktionierenden Blutkreislauf zuschreiben ließen, sondern warnten, dass in ihr mehr Leben steckte, als man eigentlich gehofft hatte.
Ach du liebe Güte, »schön, dich zu sehen«, hatte sie gesagt. Das war ja nahezu surreal.
»Hm«, brummte Carl. Wer hätte etwas anderes gewagt? »Wissen Sie vielleicht, wo Lis steckt? Ist sie etwa wie alle anderen krank?«, fragte er vorsichtig, gewappnet, beschimpft zu werden.
»Sie ist drüben im Besprechungszimmer und führt Protokoll. Danach muss sie runter ins Archiv. Soll ich sie bitten, bei dir vorbeizuschauen?«
Carl schluckte. Hatte sie tatsächlich »vorbeischauen« gesagt? Was war denn das auf einmal für eine saloppe Ausdrucksweise?
In diesem Augenblick höchster Verwirrung wusste er sich nicht anders zu helfen, als ein verkümmertes Lächeln in ihre Richtung zu schicken und zielstrebig auf das Treppenhaus zuzusteuern.
»Ja, Chef«, schniefte Assad. »Worüber wolltest du denn mit mir reden?«
Carl kniff die Augen zusammen. »Ganz einfach, Assad. Du sollst mir erzählen, was genau in dem Hinterzimmer in der Eskildsgade passiert ist.«
»Was da passiert ist? Nichts weiter, als dass der Mann sich irgendwann zusammengerissen und endlich mal richtig zugehört hat.«
»Ja, ja, schon klar. Aber warum, Assad? Womit hast du ihm gedroht? Man jagt einem kriminellen Balten doch nicht einen solchen Schrecken ein, indem man ihm Andersens Märchen erzählt.«
»Ach, Märchen können einen aber auch ganz schön erschrecken. Denk doch nur an das mit dem vergifteten Apfel ...«
Carl seufzte. »Das ist Schneewittchen und stammt nicht von Hans Christian Andersen, Assad. Also, was war das für eine Drohung, wen wolltest du ihm auf den Hals hetzen?«
Einen Moment lang zögerte Assad. Dann holte er tief Luft und sah Carl in die Augen. »Ich hab nur gesagt, dass ich seinen Führerschein behalten würde, um ihn Leuten zu faxen, mit denen ich früher mal zusammengearbeitet habe. Und dass er zusehen sollte, nach Hause zu kommen und mit seiner Familie die Koffer zu packen. Denn sollten meine Kontaktleute noch jemanden antreffen, wenn sie bei ihm vorbeischauen, oder erfahren, dass er sich mit seiner Sippschaft noch in Dänemark aufhält, dann würden sie seine Bude abfackeln.«
»Abfackeln? Ich glaub nicht, dass das die Instrumente sind, mit denen wir hier arbeiten, Assad.« Carl legte eine Kunstpause ein, aber Assad hielt seinem Blick weiter stand.
»Und der Mann hat das geglaubt?«, fuhr Carl fort. »Aber warum? Warum hat er sich davon einschüchtern lassen? Wer ist dieser ominöse Faxempfänger, vor dem der Litauer so viel Schiss hat?«
Assad zog ein Blatt Papier aus der Tasche und faltete es auseinander. Linas Verslovas stand oben, und darunter prangte ein Foto, das dem Kerl zwar ähnelte, aber nicht gerade schmeichelte, gefolgt von einigen Daten und jeder Menge Zeugs in einer absolut unverständlichen
Weitere Kostenlose Bücher