Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
an der Schläfe zu reden, sie eklig nannte und darüber hinaus partout nicht glauben wollte, dass Carl eine Pistole hatte, machte der sich zum Gegenangriff bereit.
Please, sagte er im Stillen und wendete die Augen gen Himmel. Wenn du mir jetzt nicht hilfst, dauert es nur noch zehn Sekunden und ein kleiner Junge wird übers Knie gelegt.
Was ihn rettete, war nicht etwa ein plötzlich aufkommendes Gespür der schönen Großmutter für die Situation und auch nicht ein plötzlich aufkeimendes Erziehungsgen der jungen Mutter, sondern ein Vibrieren in seiner rückwärtigen Hosentasche. Gott sei Dank, es war vorbei mit dem Frieden!
»Verzeihung.« Er hob eine Hand entschuldigend in Richtung der beiden Frauen, die andere griff nach dem Handy.
»Ja, Assad«, sagte er, als er den Namen auf dem Display las. Im Augenblick war er willens, auf jeden Unsinn einzugehen. Hauptsache, er kam hier weg.
»Entschuldige die Störung, Carl. Aber kannst du mir wohl sagen, wie viele Menschen jedes Jahr in Dänemark als vermisst gemeldet werden?«
Kryptische Frage. Darauf war eine kryptische Antwort möglich. Perfekt.
»Fünfzehnhundert, würde ich sagen. Wo bist du im Moment?« Gute Replik, das klang immer gut.
»Rose und ich sind noch hier unten im Keller. Und was glaubst du, wie viele von diesen fünfzehnhundert Menschen am Ende des Jahres immer noch vermisst werden?«
»Ganz unterschiedlich. Höchstens zehn, würde ich denken.«
Carl stand auf und versuchte, wahnsinnig involviert zu wirken.
»Gibt es eine neue Entwicklung?«, fragte er. Auch das eine gute Replik.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Assad. »Das sollst du mir sagen. Denn allein in der Woche, in der die Bordellfrau Rita Nielsen verschwand, wurden noch zwei weitere Personen als vermisst gemeldet, und in der darauffolgenden Woche auch noch eine. Und keine von denen tauchte je wieder auf. Findest du das nicht auch sonderbar? Vier in so wenigen Tagen, Carl, was meinst du? Das sind ja so viele wie normalerweise in einem halben Jahr.«
»Oh Gott, ich komme sofort!« Phantastische Schlussreplik. Auch wenn sich Assad zu wundern schien. Wann hatte er zum letzten Mal dermaßen prompt reagiert?
Carl wandte sich an die Tischgesellschaft. »Entschuldigt bitte! Euch ist ja sowieso längst aufgefallen, dass ich heute etwas zerstreut bin. Einesteils bin ich in der Tat sehr stark erkältet, und ich hoffe wirklich, dass ich niemanden von euch angesteckt habe.« Er schniefte, um seine Worte zu unterstreichen, und stellte dabei fest, dass die Nase jetzt trocken war. »Hmm. Und andernteils haben wir im Augenblick vier Vermisstenfälle und einen ungewöhnlich grausamen Mord draußen auf Amager. Es tut mir außerordentlich leid, aber ich muss jetzt los. Sonst geht womöglich was schief.«
Er heftete seinen Blick auf Mona, die nun sehr besorgt aussah. So hatte sie ihn während der Therapiestunden nie angeschaut.
»Geht es um diesen alten Fall, in den du verwickelt warst?«, fragte sie und ignorierte völlig seine Komplimente über den gelungenen Abend. »Sei vorsichtig. Du weißt doch, wie tief das alles in dir steckt, Carl.«
Er nickte. »Ja, um genau den Fall geht es. Aber keine Sorge, ich habe nicht vor, in Schwierigkeiten zu geraten. Mir geht's gut damit.«
Sie runzelte die Stirn.
Verdammt, zwei Schritte zurück waren das. Was für ein verpatztes Entree in die Familie. Die Tochter hasste ihn. Carl hasste das Enkelkind. Er hatte kaum von der Gans gekostet, aber in die Soße getropft, und dann musste Mona auch noch diesen Scheißfall aufs Tapet bringen. Garantiert hetzte sie ihm jetzt wieder diesen Wannabe-Psychologen Kris auf den Hals.
»Na, jedenfalls relativ gut«, sagte er abschließend, zielte mit einem Revolverfinger auf den Jungen und drückte lächelnd ab.
Beim nächsten Mal sollte er sich besser vorher erkundigen, was sich hinter Monas Überraschung verbarg.
[⊗] - Anand Karaj ⇒ Vereinigung zweier Seelen
Anand Karaj ist die vorschriftsmäßige Form der Heirat, wörtlich übersetzt bedeutet es selige Vereinigung. Die Lavan , vier Verse des Hochzeitliedes, wurden vom vierten Guru, Guru Ram Das , geschrieben. Die Sikh Hochzeit ist eine sehr spezielle Zeremonie, in der zwei Individuen in einer gleichgestellten Partnerschaft verbunden werden. [⊗]
11
August 1987
T age hörte den Deckel des Briefkastens klappern und fluchte. Seit er den Aufkleber Bitte keine Werbung angebracht hatte, bekam er lediglich Post vom Finanzamt, und wenn die sich meldeten, bedeutete das
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