Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
zu entwickeln. Schick und schlank war er in seiner braunen Uniform, das Schiffchen steckte unter der Achselklappe, und es schien, dank Stier und Kuh, als wäre man nun zu dem Teil der unvermeidlichen Rituale des Jahres gekommen.
Nete fand, Tage wirkte so erwachsen, und als er sie oben auf dem Dachboden bat, sich auszuziehen und ihn froh zu machen, zögerte sie nicht. Warum sollte sie auch? Alle hatten doch gesagt, so gehe es und so sei es zwischen einem Er und einer Sie.
Und da niemand ihnen Einhalt gebot, wiederholten sie gelegentlich, was sie gelernt hatten: dass nichts sich mit dem Vergnügen messen kann, das zwei Körper einander geben können.
Als Nete fünfzehn war, wurde sie schwanger. Und obwohl sie sich freute und Tage verkündete, dass sie nun für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben könnten, leugnete er. Wenn es stimmte, dass er der Vater ihres Hurenkindes war, dann würde ihn das in Schwierigkeiten bringen, denn sie war minderjährig, und deshalb war das strafbar. Nein, wegen so etwas würde er verflucht noch mal nicht ins Gefängnis gehen.
Netes Vater glaubte ihrer Erklärung so lange, bis er Tage durchgeprügelt hatte und der immer noch leugnete. So hatten seine Söhne auf derartig handgreifliche Verhöre nie reagiert, und deshalb glaubte er nun seinem Neffen.
Von da an sah Tage Nete nicht mehr. Er hörte das eine oder andere über sie und zwischendurch schämte er sich ziemlich.
Doch am Ende beschloss er, das alles zu vergessen.
Zwei Tage lang bereitete er sich vor. Badete seine Hände in Schmieröl, rieb und knetete, bis die rissige Haut wieder rosig und geschmeidig war. Rasierte sich mehrmals am Tag, bis er wieder glatt und schier aussah. Beim Frisör empfingen sie ihn wie den verlorenen Sohn, wuschen, schnitten und föhnten hingebungsvoll und trugen zuletzt noch reichlich Duftwässerchen auf. Die Zähne polierte er mit Speisenatron, bis das Zahnfleisch blutete, und anschließend konnte er sich im Spiegel wie ein Echo aus besseren Zeiten betrachten. Wenn er schon zehn Millionen Kronen empfangen sollte, dann bitte auch formvollendet. Nete sollte ihn erleben als jemanden, der ein würdiges Leben geführt hatte. Sie sollte ihn als den sehen, der sie einmal zum Lachen bringen konnte. Voller Achtung sollte sie ihm entgegentreten.
Bei dem Gedanken fing er an zu zittern. Als fast Achtundfünfzigjähriger sollte er tatsächlich von ganz unten wieder hochkommen, sollte plötzlich als ein ganzer Mensch dastehen, als jemand, der den Blicken seiner Mitmenschen begegnen konnte, ohne Verachtung fürchten zu müssen.
In der Nacht träumte er von Respekt und Neid und von hellen Zeiten in neuer Umgebung. Ob er danach noch in dieser erbärmlichen Gesellschaft würde leben wollen, die ihn nur wie eine Pestbeule betrachtete? Ob er in einem Ort mit vierzehnhundert Einwohnern würde versauern wollen, wo selbst die Eisenbahn dahinsiechte? In einem Ort, dessen Stolz eine Anhängerfabrik war, die längst weggezogen war, und der stattdessen eine neue Hochschule bekommen hatte mit einem Namen, der so was von krank war: die Nordische Hochschule für Frieden.
Er entschied sich für den größten Herrenausstatter in Bogense und kaufte einen schön glänzenden, blau gesprenkelten Anzug, laut Verkäufer hochmodern, der nach einer ordentlichen Reduzierung gerade so teuer war, dass genug Geld für ein bisschen Zweitaktmischung für sein Moped und eine Fahrkarte von Ejby nach Kopenhagen blieb.
Als er auf das Velosolex [⊗] stieg und durch den Ort knatterte, war das der Moment seines Lebens. Noch nie hatten sich Blicke so lieblich angefühlt. Noch nie hatte er sich dem Leben, das dort draußen irgendwo auf ihn wartete, so zugewandt gefühlt.
[⊗] - Velosolex ⇒ Richtig: Vélosolex ist ein Mofa, das vom französischen Vergaserhersteller Solex von Marcel Mennesson, einem der beiden Firmengründer, entwickelt und von 1946 bis 1988 produziert wurde. Noch heute wird es weltweit in verschiedenen Ländern in Lizenz hergestellt. [⊗]
12
August 1987
S eit Beginn der Achtzigerjahre hatte Curt Wad mit Genugtuung den zunehmenden Rechtsruck in der Bevölkerung registriert, und nun, Ende August 1987, gingen fast alle Prognosen davon aus, dass der bürgerliche Flügel die Wahl wieder gewinnen würde.
Die Zeiten waren gut für Curt Wad und seine Gesinnungsgenossen. Die Aufschwungpartei wetterte gegen die Fremden. Nach und nach sammelten sich immer mehr christliche Gremien und national gesinnte Vereinigungen um gewiefte
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