Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
aus.
Dann folgten die üblichen Droh- und Hassbriefe. Er notierte die Absender und warf sie auf den Archivstapel für die Bürodamen in der Stadt. Falls denen bei der Durchsicht der Absender fleißige Wiederholungstäter auffielen, rief Curt den Sprecher der Regionalgruppe an. Der sorgte dafür, dass jedes weitere derartige Briefeschreiben aufhörte. Das ließ sich auf vielerlei Arten angehen. Die meisten Menschen hatten irgendetwas, das sie nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt haben wollten, und ihre Vereinigung wiederum hatte Anwälte, Ärzte oder Pfarrer vor Ort, die Zugriff auf die einschlägigen Archive hatten. Manche würden das, was dann geschah, als Erpressung bezeichnen. Curt nannte es Selbstverteidigung.
Darüber hinaus gab es unter den Briefeschreibern Personen, die um Aufnahme in die Vereinigung baten, und gerade in dem Zusammenhang war größte Vorsicht geboten, denn Unterwanderung wäre fatal. Aus diesem Grund öffnete Curt Wad seine Post auch höchstpersönlich.
Außerdem gab es noch solche Briefe, die das gesamte Spektrum umfassten, von Huldigung bis Gejammer und Wut.
In diesem letzten kleinen Stoß der Tagespost fand Curt Wad den Brief von Nete Hermansen. Als er den Absendernamen las, musste er unwillkürlich lächeln. Nicht viele Fälle im Lauf all der Jahre waren so erfolgreich gewesen wie gerade ihrer. Insgesamt zweimal hatte er das unsittliche Gebaren dieser kleinen Schlampe aufhalten müssen.
Womit wollte ihn das Weibsbild wohl diesmal belästigen? Tränen oder Schelte? Na, einerlei. Nete Hermansen bedeutete ihm nichts, weder damals noch heute. Dass sie nun allein war, nachdem sich ihr idiotischer Ehemann am selben Abend, als sie sich zum letzten Mal begegnet waren, bei einem Autounfall umgebracht hatte, entlockte Curt Wad höchstens ein Achselzucken.
Sie hatte es nicht besser verdient.
Er warf den Umschlag ungeöffnet zu den anderen unwichtigen Schreiben auf den Archivstapel. Nicht einmal seine Neugier war geweckt. Anders als damals.
Von Nete Hermansen hatte Curt Wad zum ersten Mal gehört, als ein Vertreter der Schule in die Arztpraxis seines Vaters gekommen war. Es ging um ein Mädchen, das in den Mühlbach gefallen war und aus dem Unterleib blutete.
»Möglicherweise handelt es sich um einen Abort, vieles deutet darauf hin«, hatte der Schulvertreter gesagt. »Es gibt Gerüchte, ein paar Schuljungen seien dafür verantwortlich, aber das sollte man nicht für bare Münze nehmen. Es war ein Unfall, und wenn Sie zu der Familie gerufen werden, Doktor Wad, und Zeichen von Gewalt am Körper des Mädchens entdecken, dann dürfen Sie getrost davon ausgehen, dass diese auf den Sturz des Mädchens in den Mühlbach zurückzuführen sind.«
»Wie alt ist das Mädchen?«, hatte sein Vater gefragt.
»Gut fünfzehn Jahre.«
»In dem Fall ist eine Schwangerschaft keine unproblematische Sache.«
»Das Mädchen ist auch wahrlich nicht unproblematisch«, hatte der Schulvertreter gelacht. »Aufgrund einiger Ungeheuerlichkeiten hat man sie schon vor Jahren der Schule verwiesen. Aufforderung zur Unzucht mit Jungen, extrem loses Mundwerk, Schlichtheit im Denken und Gewalttätigkeit gegenüber den Schulkameraden sowie der Lehrerin.«
Bei diesen Worten legte Curts Vater voller Verständnis den Kopf in den Nacken. »Aha, eine von denen«, sagte er. »Schwach begabt, könnte ich mir denken.«
»Unbedingt.«
»Und unter den tüchtigen Schuljungs, die dieses minderbemittelte Kind auf die Anklagebank schicken könnte, ist da vielleicht einer, den der Herr Schulvertreter persönlich kennt?«
»Ja«, antwortete der und nahm dankbar eine der Zigarren, die in Reih und Glied im Zigarrenkasten lagen. »Einer der Jungs ist der Jüngste der Schwägerin meines Bruders.«
»Aha«, sagte Curts Vater. »Ja, da prallen die Gesellschaftsschichten aufeinander, kann man wohl sagen, nicht wahr?«
Curt war damals dreißig Jahre alt gewesen und hatte die Praxis seines Vaters in weiten Teilen bereits übernommen. Aber Patientinnen wie dieses Mädchen, von dem die Rede war, hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen.
»Was macht das Mädchen?«, fragte Curt. Sein Vater nickte anerkennend.
»Ach, ich bin da gar nicht näher informiert, ich vermute, dass sie ihrem Vater auf dem Bauernhof zur Hand geht.«
»Und wer ist der Vater?«, fragte Curts Vater.
»Meiner Erinnerung nach heißt er Lars Hermansen. Ein kräftiger Bursche. Recht durchschnittlich.«
»Ich glaube, den kenne ich«, sagte Curts Vater. Natürlich
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