Carre, John le
sie
Familie und Freundeskreis bezeichnete. Aus jedem der beiden Gründe war er
tabu. Drittens hatte sie ihn in der Bywater Street empfangen, laut Übereinkunft
ein grober Verstoß gegen den Revierfrieden.
Wieder
einmal zog Smiley sich in sein eigenes einsames Leben zurück und wartete
darauf, daß Ann etwas sagen würde. Er übersiedelte ins Gästezimmer und sorgte
dafür, daß er eine Menge abendlicher Verabredungen hatte und auf diese Weise
von ihrem Kommen und Gehen weniger bemerkte. Ganz allmählich dämmerte ihm, daß
sie zutiefst unglücklich war. Sie nahm ab, verlor ihre spielerische Art, und
wenn er sie nicht so gut gekannt hätte, hätte er geschworen, sie leide unter
einem schweren Anfall von Zerknirschung, ja, von Abscheu vor sich selber. Wenn
er freundlich zu ihr war, wehrte sie ihn ab; sie zeigte kein Interesse an
Weihnachtseinkäufen und erkrankte an einem quälenden Husten, was, wie er wußte,
ihr SOS-Ruf war. Ohne die Operation Testify wäre er
schon früher mit ihr nach Cornwall abgereist. So aber mußten sie die Reise bis
Januar verschieben, und dann war Control tot, Smiley pensioniert und das Blatt
hatte sich gewendet; und um die Schmach vollzumachen, deckte Ann die
Haydon-Karte mit jeder Menge anderer, die sie aus dem Haufen herausziehen
konnte.
Was war
passiert? Hatte sie die Beziehung abgebrochen? Oder Haydon? Warum sprach sie
nie darüber? War es denn überhaupt so wichtig, eine Affäre unter so vielen
anderen? Er gab auf. Wie die Katze aus Alice im Wunderland schien
Bill Haydons Gesicht zu verschwimmen, sobald er sich ihm näherte und nur das
Grinsen blieb. Aber er wußte, daß Bill auf die eine oder andere Art Ann
zutiefst verwundet hatte, und das war die unverzeihlichste aller Sünden.
Merlin
beginnt endlich, menschliche Züge anzunehmen
Mit einem
Grunzen des Abscheus kehrte Smiley an den wenig einladenden Schreibtisch zurück
und setzte seine Lektüre von Merlins Fortschritten seit seinem erzwungenen
Ausscheiden aus dem Circus fort. Die Ära Alleline hatte, wie er sofort sah,
unverzüglich mehrere vorteilhafte Veränderungen in Merlins Lebensstil
bewirkt. Etwas wie eine Reifung, eine Beruhigung. Die nächtlichen Spritztouren
in europäische Hauptstädte hörten auf, der Nachrichtenstrom wurde regelmäßiger,
weniger hektisch. Gewiß, es gab noch allerhand Kopfschmerzen. Merlins
Geldwünsche gingen weiter - Ersuchen, niemals Drohungen -, und mit dem
anhaltenden Wertverfall des Pfundes wurden diese ansehnlichen Zahlungen für das
Schatzamt zu einem Alptraum. Es fand sich einmal sogar eine — nie weiter
verfolgte - Anregung, Merlin möge »da wir das Land seiner Wahl sind, auch in
etwa unserem finanziellen Engpaß Rechnung tragen«. Haydon und Bland waren
offensichtlich empört gewesen: »Ich habe nicht die Stirn«, schrieb Alleline mit
ungewohnter Offenheit an den Minister, »meinen Mitarbeitern dieses Thema
nochmals vorzutragen.« Außerdem hatte es Krach wegen einer neuen Kamera
gegeben, die von den Klempnern unter großem Kostenaufwand in röhrenförmige
Bestandteile zerlegt und in eine genormte Stehlampe sowjetischer Herstellung
eingepaßt worden war. Die Lampe wurde nach großem Wehgeschrei, diesmal aus dem Foreign
Office, per Diplomatengepäck nach Moskau gemogelt. Dann stellte
sich das Problem der Ablieferung. Die Außenstelle konnte nicht über Merlins
Identität informiert werden und wußte auch nicht, was in der Lampe steckte. Die
Lampe war sperrig und paßte nicht in den Gepäckraum des Wagens des
Außenagenten. Nach mehreren Versuchen wurde eine »unsaubere« Übergabe bewerkstelligt,
aber die Kamera funktionierte nie, und es gab böses Blut zwischen dem Circus
und seiner Moskauer Außenstelle.
Ein weniger
raffiniertes Modell wurde von Esterhase nach Helsinki gebracht und dort - so
Allelines Aktennotiz an den Minister - »einem vertrauenswürdigen Mittelsmann
übergeben, der unbehelligt die Grenze passieren konnte«. Plötzlich richtete
Smiley sich mit einem Ruck auf. »Wie besprochen«, schrieb Alleline in einer
Notiz an den Minister, datiert mit dem 27. Februar dieses Jahres. »Sie
erklärten sich einverstanden, dem Schatzamt einen zusätzlichen Antrag für ein
Londoner Haus vorzulegen, das im Witchcraft-Budget geführt
werden soll.« Er las es einmal, dann nochmals langsamer. Das Schatzamt hatte
sechzigtausend Pfund für das Anwesen und weitere zehntausend für Einrichtung
und Zubehör bewilligt. Es wollte jedoch, zwecks Kostenersparnis, die
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