Carre, John le
Glück könnte ich am Wochenende
wieder in London sein. Ich glaube sogar, ich hatte Karten für das >Sadlers
Wells<. Ann schwärmte in diesem Jahr fürs Ballett.«
Ja, auch
davon hatte Guillam gehört. Ein zwanzigjähriger wallisischer Apoll, der
Wunderknabe der Saison. London hatte monatelang über die beiden gelästert.
Die Hitze
im Gefängnis war mörderisch, fuhr Smiley fort. In der Mitte der Zelle stand ein
Eisentisch, Vieh-Halteringe waren ringsum in die Wände eingelassen. »Sie
führten ihn in Handschellen herein, was albern schien, denn er war so
schmächtig; ich bat sie, ihm die Handfesseln zu lösen, und als er die Hände
frei hatte, legte er sie vor sich auf den Tisch und sah zu, wie das Blut
zurückströmte. Es mußte schmerzhaft gewesen sein, aber er äußerste sich nicht
dazu. Er war seit einer Woche hier und trug einen Kattunkittel. Rot. Ich habe
vergessen, was das Rot bedeutete. Irgendeine Einstufung.« Er trank einen
Schluck Wein, verzog wieder das Gesicht, dann wechselte sein Ausdruck, als die
Erinnerungen sich erneut zu Wort meldeten. »Also, auf den ersten Blick machte
er wenig Eindruck auf mich. Ich hätte schwerlich in dem kleinen Burschen vor
mir den schlauen Fuchs aus dem Brief der armen Irina erkannt. Wahrscheinlich stimmt
es auch, daß meine Nervenenden ein bißchen abgestumpft waren von den vielen
ähnlichen Begegnungen in den letzten Monaten, den Reisen und den - nun ja, den
Vorgängen zu Hause.« In den vielen Jahren, die Guillam ihn nun kannte, hatte
Smiley nie annähernd so deutlich auf Anns Untreue angespielt. »Aus irgendeinem
Grund hat es ganz schön weh getan.« Seine Augen waren geöffnet, aber sein Blick
richtete sich auf eine innere Welt. Die Haut der braunen Wangen war gestrafft
wie unter der Anspannung seines Gedächtnisses; aber nichts vermochte Guillam
über die Einsamkeit hinwegzutäuschen, die dieses eine Geständnis enthüllt
hatte. »Ich habe eine Theorie, die leider ziemlich unmoralisch sein dürfte«,
fuhr Smiley lockerer fort. »Jeder von uns verfügt über ein bestimmtes Maß an
Mitleid. Und wenn wir unsere Gefühle an jede streunende Katze verschwenden,
stoßen wir nie zum Kern der Dinge vor. Was halten Sie davon?«
»Wie hat
Karla ausgesehen?« fragte Guillam und tat Smileys Frage als reine Rhetorik ab.
»Onkelhaft.
Bescheiden und onkelhaft. Er hätte sich gut als Priester gemacht: die
armselige, gnomische Sorte, die man in kleinen italienischen Städtchen sehen
kann. Kleiner, drahtiger Bursche mit silbrigem Haar und hellbraunen Augen, ganz
verrunzelt. Oder als Schullehrer, er hätte Schullehrer sein können: hart, was
immer das bedeuten mag, und gescheit, im Rahmen seiner Erfahrung: aber
trotzdem Kleinformat. Einen weiteren ersten Eindruck machte er nicht, außer
daß sein Blick fest war und sich vom Beginn unseres Gesprächs an auf mich
heftete. Wenn man es Gespräch nennen kann - denn er sprach kein Wort. Nicht ein
einziges, solange wir beisammen waren, nicht eine Silbe. Außerdem war es
brüllend heiß, und ich war von den vielen Reisen l völlig kaputt.«
Weniger
aus Hunger, als um der Form Genüge zu tun, machte Smiley sich über seinen
Teller her. Er aß lustlos ein paar Bissen, ehe er seine Erzählung wieder
aufnahm. »So», murmelte er, »jetzt muß sich die Köchin nicht kränken. Offen
gestanden war ich gegen Gerstmann ein bißchen voreingenommen. Wir alle haben
unsere Vorurteile, und meines richtet sich gegen Radioleute. Sie sind nach
meiner Erfahrung eine lästige Bande, schlechte Außenarbeiter, meist überzogen
und aufs peinlichste unzuverlässig, wenn es darauf ankommt. Gerstmann war für
mich auch nur einer aus diesem Clan. Vielleicht suche ich auch nur nach Entschuldigungen
dafür, daß ich ihn mit weniger . . .«, er zögerte, »weniger Sorgfalt, weniger
Behutsamkeit behandelte, als man rückblickend für nötig erachtet.« Plötzlich
wurde er wieder sicherer. »Dabei bin ich keineswegs überzeugt, daß ich mich
überhaupt entschuldigen muß«, sagte er.
Hier
spürte Guillam eine Aufwallung ungewöhnlichen Zorns, die sich durch ein
geisterhaftes Lächeln um Smileys blasse Lippen ausdrückte. »Hol's der Teufel«,
murmelte Smiley. Guillam wartete verdutzt.
»Ich
erinnere mich auch, daß ich dachte, die nur sieben Tage im Gefängnis haben ihn
ganz schön geschafft. Seine Haut hatte schon dieses staubige Weiß. Und er
schwitzte überhaupt nicht. Ich um so mehr. Ich sagte also mein Sprüchlein auf, wie
bereits ein Dutzendmal in diesem Jahr,
Weitere Kostenlose Bücher