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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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Brücken zu ihm zu schlagen, dachte sie; so, wie
ich es nicht über mich brachte, das Glas abzuwaschen, aus dem er seinen Wodka
getrunken hat, oder die Kissen aufzuschütteln, auf denen er saß und mir einen
Vortrag über die Gefahr hielt.
    Doch
am dritten - oder war es am fünften? - Tag rang sie sich zu einer anderen und
rüderen Ansicht über ihre vorgeblichen Beschützer durch. Sie hörte auf, das
kleine Mädchen zu spielen. Als sie an irgendeinem Tag frühmorgens ihre Wohnung
verließ, um eine besondere Anlieferung im Lagerhaus zu kontrollieren, trat sie
aus dem Hort ihrer Selbsttäuschungen direkt auf die Straßen Moskaus hinaus, wie
sie ihr aus den Jahren mit Glikman in deutlicher Erinnerung waren. Die
schlecht beleuchtete, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße war leer, mit
Ausnahme eines schwarzen Wagens, der zwanzig Meter von ihrer Haustür entfernt
parkte. Wahrscheinlich war er in diesem Augenblick angekommen. Nachträglich
war ihr, als habe sie ihn heranfahren sehen, vielleicht sollte er die Posten
zum Wacheschieben abliefern. Scharf bremsen, gerade, als sie herauskam. Und
abblenden. Resolut machte sie sich auf den Weg die Straße entlang. »Gefahr vor
allem für Sie«, erinnerte sie sich immer wieder; »Gefahr für uns alle,
die wir Bescheid wissen.«
    Der
Wagen folgte ihr.
    Sie
halten mich für eine Hure, versuchte sie sich einzureden, eine von diesen
alten, die den Morgenmarkt abgrasen.
    Plötzlich
hatte sie nur noch ein Ziel: in eine Kirche schlüpfen. Irgendeine. Die nächste
russisch-orthodoxe Kirche war zwanzig Minuten entfernt und so klein, daß das
Beten dort einer spiritistischen Sitzung gleichkam; die unmittelbare Nähe der
Heiligen Familie sicherte allein schon Vergebung der Sünden. Doch zwanzig
Minuten waren eine Ewigkeit. Nicht-orthodoxe Kirchen mied sie in der Regel
konsequent - sie waren ein Verrat an ihrer Herkunft. Doch als an diesem Morgen
der Wagen hinter ihr herkroch, hatte sie ihr Vorurteil überwunden und war in
die erstbeste Kirche getaucht, die sich nicht nur als katholisch erwies,
sondern sogar als fortschrittlich katholisch, so daß sie die Messe zweimal in schlechtem
Französisch über sich ergehen lassen mußte, gelesen von einem
Arbeiterpriester, der nach Knoblauch und Schlimmerem roch. Als sie die Kirche
wieder verließ, waren die Männer nirgends zu sehen, und das war schließlich die
Hauptsache - auch wenn die Ostrakowa, als sie im Lagerhaus eintraf, sich zu
zwei Überstunden verpflichten mußte, um die durch ihr Zuspätkommen verursachten
Schwierigkeiten wettzumachen. Egal, es war und blieb die Hauptsache.
    Danach,
drei Tage lang nichts, oder waren es fünf? Der Ostrakowa rann jetzt auch die
Zeit durch die Finger, wie Geld. Drei oder fünf, sie waren weg, es hatte sie
nie gegeben. Alles war nur ihre »Ausschmückerei«, wie der Magier es genannt
hatte, ihre dumme Gewohnheit, zuviel zu sehen, zuvielen Leuten in die Augen zu
schauen, zuviele Episoden zu erfinden. Bis heute früh, als sie wieder da waren.
Nur daß heute fünfzigtausendmal schlimmer war, denn heute war jetzt , und
die Straße war heute so leer wie am letzten Tag oder am ersten, und der Mann,
der sich fünf Meter hinter ihr hielt, kam näher, und der Mann, der unter
Merciers gefährlich herabhängender Markise gegangen war, überquerte die Straße,
um sich zu seinem Kollegen zu gesellen.
     
    Was
dann geschah, hätte nach den Kenntnissen oder Vorstellungen der Ostrakowa wie
der Blitz passieren müssen. In dem einen Augenblick ging man noch aufrecht die
Straße entlang, im nächsten wurde man unter einem Geflirr von Lichtern und dem
Geheul von Sirenen auf einen Operationstisch geweht, den Chirurgen mit
verschiedenfarbigen Gesichtsmasken umstanden. Oder man war im Himmel vor dem
Allmächtigen und murmelte Entschuldigungen wegen gewisser Fehltritte, die man
nicht wirklich bedauerte; und Er- wenn man Ihn recht verstand -, auch nicht.
Oder, und das war das Schlimmste, man kam davon und wurde als gehfähiger
Verwundeter nach Hause entlassen, und die lästige Halbschwester Valentina ließ
höchst ungehalten alles liegen und stehen, um aus Lyon herbeizueilen und am
Krankenbett dauernd auf einen herunterzukeifen.
    Keine
dieser Annahmen traf zu.
    Alles
ging mit der Langsamkeit eines Unterwasserballetts vor sich. Der Mann, der zu
ihr aufschloß, hielt sich rechts und ging an der Häuserseite neben ihr her. Der
Mann, der bei Merciers Laden die Straße überquert hatte, hielt sich links von
ihr, nicht auf dem Trottoir,

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