Carre, John le
wußte, daß sie ihre Ausbildung an der
Universität von Leningrad vervollkommnet hatten und danach in höheren
Positionen wieder in der Werft aufgetaucht waren. Das Studium des Schiffsbaus
dauerte in Leningrad drei Jahre. Nach di Salis' Berechnungen hätte Nelson sich
mutmaßlich von dreiundfünfzig bis sechsundfünfzig dort aufgehalten und war
danach offiziell dem Schanghaier städtischen Marinebauamt zugewiesen worden,
das ihn dann an Kiangnan zurückgab. Ausgehend von der Annahme, daß Nelson nicht
nur chinesische Vornamen hatte, die noch immer unbekannt waren, sondern sich
höchstwahrscheinlich obendrein noch einen neuen Familiennamen zugelegt hatte,
machte di Salis seine Gehilfen darauf aufmerksam, daß Nelsons Biographie aus
zwei Teilen bestehen mochte, jeder unter einem anderen Namen. Sie sollten auf
Abzweigungen achten. Er verschaffte sich auf Umwegen Listen von promovierten
und eingeschriebenen Studenten sowohl an der Chiao Tung wie an der Leningrader
Universität und brachte sie zur Deckung. Die Chinaspezialisten sind eine Rasse
für sich, und ihre gemeinsamen Interessen überwinden Protokoll und nationale
Unterschiede, di Salis hatte Verbindungen nicht nur in Cambridge und zu jedem
Orient-Archiv, sondern auch nach Rom, Tokio und München. Er schrieb an sie
alle, versteckte jedoch sein Anliegen unter einer Unmenge anderer Fragen. Sogar
die Vettern hatten ihm, wie sich später herausstellte, unwissentlich ihre Akten
zugänglich gemacht. Er stellte noch weitere und sogar noch geheimnisvollere
Erkundigungen an. Er schickte Wühlmäuse zu den Baptisten, wo sie in den
Berichten über ehemalige Zöglinge der Missionsschulen herumgruben, auf die
geringe Chance hin, daß Nelsons chinesische Namen doch irgendwo aufgeschrieben
und abgelegt sein könnten. Er ging allen Berichten über Todesfälle unter den
mittleren Beamten der Schanghaier Schiffsbau-Industrie nach, deren er habhaft
wurde.
Das war die erste Etappe seiner Mühen. Die zweite begann mit der, wie
Connie sie nannte, Großen Barbarischen Kulturrevolution Mitte der sechziger
Jahre und den Namen jener Beamten aus Schanghai, die aufgrund krimineller prorussischer
Neigungen entfernt wurden, gedemütigt oder in die Schule des 7. Mai geschickt, wo sie die heilsame Wirkung der Landarbeit wiedererfahren
konnten. Er konsultierte sogar die Listen der Leute, die in Umerziehungslager
gesteckt worden waren - aber ohne viel Erfolg. Er prüfte, ob sich in den
Ansprachen an die Roten Garden irgendwelche Anspielungen auf den verderblichen
Einfluß einer baptistischen Erziehung auf diesen oder jenen in Ungnade
gefallenen Beamten fänden, und er spielte komplizierte Spiele mit dem Namen Ko. Der Gedanke ließ ihn nicht los, daß
Nelson bei seinem Namenswechsel auf ein anderes Schriftzeichen verfallen sein
könnte, das den gleichen Laut- oder Bedeutungswert hatte wie das ursprüngliche.
Aber als er Connie das erklären wollte, fand er kein Gehör.
Connie Sachs verfolgte eine ganz andere Linie. Sie konzentrierte ihr
Interesse auf die Aktivitäten unbekannter, von Karla ausgebildeter
Talentsucher, die in den fünfziger Jahren unter den ausländischen Studenten der
Universität Leningrad zugange waren; und auf - nie bewiesene - Gerüchte, wonach
Karla als junger Komintern-Agent nach dem Krieg an den kommunistischen
Untergrund von Schanghai ausgeliehen worden sein sollte, um dort den illegalen
Apparat aufbauen zu helfen. Mitten in all das neuerliche Wühlen platzte eine
kleine Bombe aus Grosvenor Square. Mr. Hibberts Enthüllungen waren noch
ofenfrisch, und die Rechercheure beider Familien werkten noch wie die Rasenden,
als Peter Guillam mit einer dringenden Meldung bei Smiley aufkreuzte. Smiley
war wie immer in seine eigene Lektüre vertieft, und als Guillam eintrat, schob
er eine Akte in die Schreibtischlade und schloß sie.
»Die Vettern haben angerufen«, sagte Guillam sanft. »Wegen Bruder
Ricardo, Ihrem Lieblingspiloten. Sie möchten Sie so bald wie möglich im Annex
sehen. Ich soll spätestens gestern zurückrufen.«
»Sie möchten was«
» Möchten Sie sehen.«
»Ach nein? Wirklich? Du lieber Gott.« Und er tappte in sein Badezimmer, um sich zu rasieren.
Als Guillam in sein eigenes Büro zurückkam, sah er Sam Collins im
Polstersessel sitzen, eine seiner barbarischen braunen Zigaretten rauchen und
sein waschbares Lächeln lächeln. »Irgendwas los?« fragte Sam sehr beiläufig.
»Scheren Sie sich raus hier«, fauchte Guillam. Sam schnüffelte für
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