Carre, John le
unaufhaltsam näher und damit der Tag, an dem Ko Freiwild werden sollte
für jeden, der ihm als Erster etwas anhängen könnte.
Aber Smiley behielt die Nerven. Er wies alle Anschuldigungen zurück,
die gegen sein eigenes und gegen Jerrys Verhalten vorgebracht wurden. Der Baum
sei geschüttelt, erklärte er immer wieder, Ko sei aufgescheucht worden, und die
Zeit wende erweisen, daß man richtig gehandelt habe. Er wollte sich um keinen
Preis zu einem Fußfall vor Martello drängen lassen und hielt sich entschlossen
an die Bedingungen der Absprache, die er in seinem Brief, dessen Kopie jetzt
bei Lacon lagerte, umrissen hatte. Auch ließ er sich, was ihm vertraglich
zustand, weder von Gott noch von der Kraft der Logik oder von Kos möglichen
Reaktionen dazu zwingen, irgendwelche operativen Details zu diskutieren, sofern
nicht Protokollfragen oder koloniale Belange davon berührt wurden. Er wußte
genau, daß hier die geringste Nachgiebigkeit nur den Zweiflern neue Munition
für seinen Abschuß geliefert hätte.
Fünf Wochen lang hielt er das durch, und am sechsunddreißigsten Tag
spielten Gott oder die Kraft der Logik oder Kos menschliche Reaktion George
Smiley einen wertvollen, wenn auch geheimnisvollen Trost zu. Drake Ko ging
unter die Seefahrer. Begleitet von Tiu und einem unbekannten Chinesen, der
später als Erster Kapitän von Kos Dschunkenflotte identifiziert wurde,
verbrachte er den größten Teil dreier Tage mit Rundreisen zu den Inseln vor
Hongkong, von denen er allabendlich bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehrte.
Wohin sie genau gingen, war noch nicht festzustellen. Martello schlug eine
Reihe von Hubschrauber-Überflügen vor, um ihre Spur zu verfolgen, aber Smiley
lehnte den Vorschlag rundweg ab. Die statische Observierung vom Kai aus
bestätigte, daß die Reisegesellschaft offenbar täglich auf einer anderen Route
ausfuhr und wieder heimkehrte, das war auch alles. Und am letzten Tag, dem
vierten, kam das Schiff überhaupt nicht zurück. Panik. Wo war es abgeblieben?
Martellos Herren und Meister in Langley, Virginia, gerieten vollends aus dem
Häuschen und folgerten, daß Ko und die »Admiral Nelson« mit voller Absicht in
chinesische Hoheitsgewässer geraten seien. Oder sogar, daß man sie entführt
habe. Ko würde nie mehr gesehen werden, und Enderby, der seine eigenen Schiffe
davonschwimmen sah, rief persönlich bei Smiley an und sägte, es sei »verdammt
nochmal Ihre Schuld, wenn Ko in Peking auftaucht und ein großes Geschrei von
wegen Belästigung durch den Geheimdienst erhebt«. Einen qualvollen Tag hindurch
überlegte sogar Smiley selber insgeheim, ob Ko nicht wider alle Vernunft tatsächlich
zu seinem Bruder gereist sei.
Dann, am nächsten Morgen, lief die Yacht ruhig im Haupthafen ein, als
kehre sie gerade von einer Regatta zurück, und ein vergnügter Ko ging hinter
seiner schönen Liese mit dem langen, sonnenfunkelnden Goldhaar - das reinste
Werbeplakat - über die Laufplanke an Land.
Diese Nachricht gab den Anstoß, daß Smiley nach sehr langem Nachdenken
und neuerlichem eingehendem Studium von Kos Akte - ganz zu schweigen von
spannungsreichen Besprechungen mit Connie und di Salis - zwei Entscheidungen
gleichzeitig traf oder, wie die Glücksspieler sagen - seine letzten beiden
Karten auszuspielen beschloß.
Erstens: Jerry sollte die »letzte Stufe« in Angriff nehmen, womit er
Smiley Ricardo meinte. Dieser Schritt würde, so hoffte er, den Druck auf Ko
verstärken und Ko nötigenfalls den letzten Beweis dafür liefern, daß er jetzt
handeln müsse. Zweitens: Sam Collins sollte »aktiv werden«. Die zweite
Entscheidung wurde in einer Beratung mit Connie Sachs allein gefällt. Sie
findet keine Erwähnung in Jerrys Personalakte, nur in einem geheimen Anhang,
der später mit gewissen Streichungen zu weiterer Prüfung freigegeben wurde. Die
verheerende Wirkung, die alle diese Aufschübe und Verzögerungen auf Jerry
ausübten, hätte auch der größte Geheimdienstchef der Welt nicht in seine
Berechnungen einbeziehen können.
Diese Wirkung zu kennen, war eine Sache - und Smiley kannte sie
zweifellos und unternahm sogar einiges, um ihr vorzubeugen. Sich von dieser
Wirkung bestimmen zu lassen, ihr den gleichen Stellenwert einzuräumen wie den
hochpolitischen Faktoren, mit denen er täglich bombardiert wurde, wäre eine
ganz andere und völlig unverantwortlich gewesen. Ein General muß einfach
Prioritäten setzen.
Saigon war entschieden der letzte Ort, an dem Jerry seinen Wartestand
hätte
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