Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
Fachmann. Übrigens, wir
ziehen uns gewöhnlich für den Abend um, aber das ist nicht wichtig.«
Smileys
Herz sank. Sie bogen um eine Ecke und betraten noch einen Korridor.
»Wir haben
hier zu allen Stunden Andachten. Der Master hat die sieben Taghoren für die
Offizien Wie deraufleben
lassen: Prim, Terz, Sext und so weiter. Überfütterung während des Semesters,
Abstinenz während der Ferien - das ist das System, wie bei den Sportübungen.
Nützlich im Haus auch für Appelle.« Er ging noch einen Korridor voran, riß an
seinem Ende eine Doppeltür auf und marschierte geradewegs in den Speisesaal,
sein Talar bauschte sich anmutig hinter ihm. Die Jungen erwarteten ihn.
»Noch
etwas Sherry? Wie fanden Sie die Andacht? Sie singen ganz hübsch, nicht? Ein
oder zwei gute Tenöre. Im letzten Semester haben wir etwas gregorianischen
Choralgesang versucht; ganz gut, wirklich ganz gut. D'Arcy wird gleich hier
sein. Er ist ein fürchterliches Ekel. Sieht aus wie ein Sickert-Modell fünfzig
Jahre danach - nichts wie Hose und Kragen. Sie können jedoch von Glück sagen,
daß seine Schwester ihn nicht begleitet. Sie ist noch schlimmer!«
»Was für
ein Fach unterrichtet er?« Sie waren wieder in Fieldings Arbeitszimmer.
»Fach! Wir
haben hier keine festen Unterrichtsfächer. Keiner von uns hat ein Wort über
irgendein Fach gelesen, seit wir die Universität verließen.« Er senkte die
Stimme und fügte geheimnisvoll hinzu: »Das heißt, wenn wir die Universität besucht haben. D'Arcy lehrt
Französisch. D'Arcy ist Senior des Lehrkörpers durch Wahl, Junggeselle von
Profession, vergeistigter Homosexueller aus Neigung...«, er stand jetzt ganz
still, den Kopf zurückgelegt und die rechte Hand auf Smiley gerichtet, »... und
sein Fach sind die Fehler anderer Leute. Zuvörderst aber ist er der selbsternannte
Haushofmeister des Protokolls von Carne. Wenn man auf dem Fahrrad einen Talar
trägt, eine Einladung inkorrekt beantwortet, einen Fehler bei der Plazierung
seiner Dinnergäste begeht oder von einem Kollegen als >Mister< spricht,
D'Arcy wird einen ertappen und ermahnen.«
»Worin
bestehen denn die Pflichten eines Seniors des Lehrkörpers?« fragte Smiley, nur
um etwas zu sagen.
»Er ist
der Schiedsrichter zwischen den klassischen Philologen und den
Naturwissenschaftlern; er arrangiert den Stundenplan und untersucht die
Prüfungsergebnisse eingehend. Aber hauptsächlich muß der arme Mann die
Geistes- mit den Naturwissenschaften in Einklang bringen.« Er schüttelte weise
den Kopf. »Um das fertigzubringen, braucht man einen besseren Mann als D'Arcy.
Nicht«, fügte er müde hinzu, »daß es den geringsten Unterschied macht, wer die
Extrastunde an den Freitagabenden bekommt. Wer fragt schon danach? Nicht die
Jungen, die armen Kerle, das steht fest.«
Fielding
sprach weiter, wahllos und immer in Superlativen; manchmal griff er dabei mit
der Hand in die Luft, als wolle er die flüchtigen Metaphern einfangen; jetzt
von seinen Kollegen mit ätzendem Spott, jetzt von den Jungen mit Mitleid, wenn
nicht Verständnis; jetzt von den Geisteswissenschaften mit Leidenschaft - und
mit der ausgeklügelten Verwirrung eines einsamen Schülers.
»Carne ist
keine Schule. Es ist ein Sanatorium für intellektuelle Aussätzige. Die Symptome
begannen, als wir von den Universitäten kamen; ein allmähliches Fauligwerden
unserer geistigen Extremitäten. Von Tag zu Tag stirbt unser Geist mehr und mehr
ab, verkümmern unsere Seelen und verrotten. Wir beobachten den Vorgang bei uns
gegenseitig, in der Hoffnung, ihn in uns selbst zu vergessen.« Er hielt inne
und betrachtete nachdenklich seine Hände.
»In mir
ist der Prozeß beendet. Sie sehen vor sich eine tote Seele, und Carne ist der
Körper, in dem ich lebe.« Sehr entzückt von seinem Bekenntnis, breitete
Fielding die langen Arme aus, so daß die Ärmel seines Talars den Flügeln einer
riesigen Fledermaus glichen. »Der Vampir von Carne«, erklärte er mit einer
tiefen Verbeugung. »Alcoholique et
poóte.« Ein bellendes Gelächter folgte dieser Darbietung.
Smiley war
von Fielding fasziniert, von seiner Größe, seiner Stimme, der zügellosen
Unbeständigkeit seines Temperaments, von seinem ganzen Breitwandstil; er fand
sich angezogen und abgestoßen von dieser Folge einander widersprechender Posen;
er überlegte, ob von ihm eine Teilnahme an der Vorstellung erwartet wurde,
aber Fielding schien so vom Rampenlicht geblendet, daß ihn das Publikum davor
nicht interessierte. Je mehr Smiley
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