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Caruso singt nicht mehr

Titel: Caruso singt nicht mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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undeutlich und er hörte Papiergeraschel. Er sah sie vor sich, wie sie in ihrem düsteren kleinen Beamtenstall saß und im Terminkalender blätterte, den Bleistift zwischen den Lippen, den Kopf mit den roten Haaren zur Seite geneigt. »Komm, Karen«, sagte er. »Karriere kannst du morgen wieder machen.«
    »Um 17 Uhr 30?« fragte sie mit der Präzision einer Planstellenbesitzerin.
    »Ich warte auf dich«, sagte er und lächelte. »Cola light«, sagte der Junge, als die Bedienung wiederkam. Paul bestellte sich einen zweiten Champagner und prostete ihm zu.
     
    Ihr kleiner grüner Sportwagen war voll, als er seine Einkäufe verstaut hatte. »Alles in Ordnung?« hatte sie ihn zur Begrüßung gefragt und prüfend angesehen. »Ich weiß noch nicht«, hatte Bremer wahrheitsgemäß geantwortet. »Frag mich in ein paar Stunden.«
    Als Karen die Stadt durchquert hatte und sie auf dem Zubringer zur Autobahn Richtung Wiesbaden angelangt waren, war Paul neben ihr ein schweißgebadetes Nervenbündel. Bremer als Autofahrer war ein Brutalo. Bremer als Beifahrer war – engagiert. Höflicher konnte man es nicht ausdrücken.
    Karen hatte schon mehr als einmal auf der Überholspur der Autobahn eine Vollbremsung vollzogen – »Also: fast eine Vollbremsung« –, weil Bremer neben ihr aus voller Kehle »Paß auf!« geschrien hatte. Nur weil er glaubte, der Opel Astra, den sie gerade überholten, würde in der nächsten Sekunde ausscheren, sie rammen, sie an die Leitplanke drängen, und dann … der Rettungshubschrauber …
    Sie hatte sich immer wieder geschworen, nicht mehr darauf zu achten, wenn er mit dem rechten Fuß versuchte, das Bodenblech zu durchdringen oder ihr die Hand aufs Knie legte, weil er wieder irgendeine Gefahr auf sie zukommen sah, die sie entweder längst erkannt und abgehakt hatte oder die sich nur in seiner lebhaften Phantasie abspielte.
    Aber es half nichts: Pauls spitze Schreie, das leise, entnervte Aufseufzen, sein Zusammenzucken oder sein panisches Suchen nach dem Haltegriff ließen sie innerhalb von zehn Minuten so nervös und fahrig werden, daß die Wahrscheinlichkeit für jene Schnitzer wuchs, die Paul ein vorwurfsvolles »Siehste!« erlaubten.
    »Bremer«, sagte Karen bestimmt. »Hier fährt nur einer: ich.«
    »Der kommt! Der kommt!« rief Bremer und zeigte auf einen bulligen Mercedes der S-Klasse, dessen Fahrer einen Telefonhörer am Ohr hatte und die Spur nicht so ordnungsgemäß hielt, wie Paul es bei anderen Fahrern für dringend erforderlich hielt.
    »Ich bin bei dir«, sagte Karen beruhigend, »es kann nichts passieren.«
    »Der Armleuchter«, schimpfte Paul. »Hup ihn doch wenigstens mal an!«
    Karen seufzte. »Paul! Du hältst dich jetzt raus!«
    Paul preßte verzweifelt den rechten Fuß auf den Boden. Karen nahm den ihren lässig vom Gas. »Beruhige dich. Die anderen haben viel mehr Angst um ihr Prestige-Blech als ich.«
    Als sie bei Hochheim die Autobahn verließen, fragte Bremer kleinlaut: »Nerv ich dich?«
    »Ja.« Karen sah nicht ein, daß sie ihm diese Erkenntnis ersparen sollte.
    »Es ist nur …«
    »Ich weiß.«
    »Ich begreif’s auch nicht, aber …«
    »Ich verstehe.«
    Bremer war ein engagierter Beifahrer. Das war alles.
     
    Sie sahen das Riesenrad schon von weitem, parkten frühzeitig auf einem Acker am Ortseingang und schlossen sich dem Strom der Besucher an. Der Hochheimer Markt fand, glaubte man der emphatischen Eigenwerbung der Stadt, seit mindestens zweitausend Jahren statt, war einer der größten seiner Art und der schönste sowieso.
    »Sind die sicher?« fragte Karen spitz. Auf allen Jahrmärkten gab es ihrer Erfahrung nach unausweichlich das gleiche: die gleichen Losbuden, Gyrosstationen, Weltsensationen und Waffelstände. Nur in Hochheim gab es wahrscheinlich noch mehr – vom gleichen. »Gib die Hoffnung nicht auf«, sagte Paul. Er kannte ihre ewig unerfüllte Sehnsucht nach dem alten Rummelplatzzauber: nach dem Spiegelkabinett und der Dame ohne Unterleib und dem »Haut den Lukas« und dem Maroni-Mann.
    Er hakte sie unter und steuerte die Stände mit den langen Bundeswehrunterhosen, dicken Socken und Kunststoffblusen an. Rechts führte eine Gasse zwischen Buden mit gutgemeinter Keramik, Westerwälder Steingut, Gartenzwergen, Kochgeschirr und Wurzelbürsten hindurch. Sie mündete in einen Trampelpfad, gesäumt von Knusperhäuschen mit den seit Jahren, Jahrzehnten, wahrscheinlich seit Jahrtausenden schon bewährten Süßigkeiten: weißrosa Waffeln, in allen Größen und

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