Casteel-Saga 02 - Schwarzer Engel
Studenten dies tun, Miss Casteel, besonders solche aus anderen Gebieten unseres großen, schönen Landes. Es hilft uns allen, sie zu verstehen.« Erwartungsvoll verharrte die Lehrerin, während sich alle Mädchen vorbeugten, so daß ich ihre Augen in meinem Rücken spürte. Zögernd stand ich auf, ging die paar Schritte zur Vorderwand. Jetzt konnte ich alle Mädchen sehen und begriff, wie falsch Tony in der Wahl der Kleider für mich lag! Kein einziges Mädchen trug einen Rock! Sie hatten Hosen oder Blue Jeans an und darüber lose, übergroße Hemden oder schlecht sitzende Pullis. Mein Mut sank – genau solche Schulkleidung trugen alle Kinder in Winnerow!
In dieser exklusiven Schule hier hatte ich mir die Dinge anders, hübscher vorgestellt.
Ein paar Mal mußte ich meine trockenen Lippen anfeuchten, meine Beine ließen mich im Stich und fingen an zu zittern. Tonys Anweisungen fielen mir ein. »Ich bin in Texas geboren«, begann ich mit stockender und zittriger Stimme, »später – ich war ungefähr zwei – zog ich mit meinem Vater nach West-Virginia. Dort bin ich aufgewachsen. Mein Vater wurde krank, deshalb lud mich meine Tante ein, zu ihnen zu kommen und mit ihr und ihrem Mann zu leben.«
Eilig ging ich zu meinem Platz zurück und setzte mich. Miss Rivers räusperte sich. »Miss Casteel, vor Ihrer Ankunft nannte man mir Ihren Namen zur Eintragung in unser Register. Hätten Sie etwas dagegen, mir die Herkunft Ihres bemerkenswerten Vornamens zu erklären?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen…«
»Die Mädchen möchten wissen, ob Sie nach einer Verwandten genannt wurden…«
»Nein, Miss Rivers, ich wurde nach dem Ort benannt, an den wir alle, früher oder später, gelangen möchten.«
Hinter mir kicherten ein paar Mädchen, Miss Rivers Augen wurden steinhart: »Nun gut, Miss Casteel, ich vermute, nur in West-Virginia sind Eltern so kühn, die himmlischen Mächte herauszufordern. Jetzt wollen wir unser Buch auf Seite 212 aufschlagen, um mit unserer heutigen Lektion weiterzumachen. Miss Casteel, da Sie erst am Ende des Semesters zu uns stoßen, erwarten wir, daß Sie noch vor Wochenende aufholen. Jeden Freitag gibt es eine Schulaufgabe, um Ihren Wissensstand zu prüfen. Und jetzt Mädchen, lest zu Beginn des heutigen Unterrichts die Seiten 212 bis 242. Wenn ihr damit fertig seid, macht die Bücher zu und legt sie unter eure Pulte. Dann werden wir mit unserer Diskussion beginnen.«
Bald fand ich heraus, daß Schule überall mehr oder weniger gleich war: Seiten lesen und Fragen von der Tafel abschreiben. Nur daß diese Lehrerin erstaunlich gut über das Funktionieren unserer Regierung informiert war und sie ebensogut wußte, was daran falsch war. Beeindruckt von ihrer Leidenschaft für ihr Thema saß ich da und lauschte. Als sie plötzlich zu sprechen aufhörte, hätte ich am liebsten applaudiert. Wie schön, daß sie über Armut so gut Bescheid wußte! Ja, in unserem überreichen Land gab es Leute, die hungrig schlafen gingen. Ja, Tausende Kinder hatten nicht die Ansprüche, die ihnen von Natur aus zustanden: das Recht auf genügend Essen, um Körper und Gehirn zu nähren; genug zum Anziehen, um sie warm zu halten; ausreichend Unterkunft, um sie vor schlechtem Wetter zu schützen; genug Ruhe auf einem bequemen Bett, damit sie nicht mit Ringen unter den Augen aufwachten, die vom Schlafen auf dem blanken Boden ohne genug Decken kamen; und vor allem das Recht auf Eltern, die alt und gebildet genug waren, um sie vor allen diesen Dingen zu bewahren.
»Wo fangen wir also an, alle diese Mißstände zu beseitigen? Wie stoppen wir Unwissenheit, wenn sich doch die Unwissenden nicht darum zu scheren scheinen, ob ihre Kinder in denselben armseligen Umständen gefangen bleiben oder nicht? Wie schaffen wir es, daß sich Leute in einflußreichen Positionen der Unterprivilegierten annehmen? Denken Sie heute abend darüber nach und schreiben Sie mögliche Lösungen auf. Erläutern Sie diese dann morgen vor der Klasse.«
Irgendwie überstand ich den Tag. Kein einziges Mädchen kam mit Fragen zu mir, obwohl mich alle anstarrten. Wenn ich sie aber mit meinen Augen fixierte, sahen sie rasch weg. Abends um sechs saß ich allein an einem runden, weißgedeckten Tisch im Speisesaal. Mitten auf meinem Tisch stand eine schmale Silbervase mit einer roten Rose. Die Studenten, die als Bedienung arbeiteten, nahmen meine Bestellung aus einer knappen Speisekarte entgegen und gingen dann zu anderen Tischen weiter. Dort saßen vier,
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