Casteel-Saga 03 - Gebrochene Schwingen
würde.
Fanny hatte recht. Irgendwie waren wir alle Waisenkinder, doch ich wollte dafür sorgen, daß wir eine richtige Familie werden würden. Das Kind, das in mir wuchs, sollte für Drake ein Bruder oder eine Schwester sein, als wäre es ein Kind von Stacie. Im Gegensatz zu Luke, der mich nie hatte lieben können, würde ich Drake lieben.
Ich steckte seine Decke fest, küßte ihn auf die zarte Wange und ging fort. Logan legte im Schlafzimmer gerade den Hörer auf die Gabel, als ich eintrat.
»Heaven«, sagte er. Tiefe Verzweiflung lag auf seinem Gesicht. »Es ist mir sehr unangenehm, dich jetzt allein zu lassen, aber ich muß morgen nach Winnerow. Die Dachdecker hatten Streit mit dem Vorarbeiter und haben die Arbeit niedergelegt. Alles steht still dort. Sobald ich das geklärt
habe – «
»Mach dir keine Sorgen, Logan. Fahr morgen früh los. Drake und ich sind beschäftigt, wir müssen uns kennenlernen, und ich muß ihm Farthy zeigen. Außerdem möchte ich hier sein, wenn Tony zurückkommt. Ich habe mit ihm einiges zu besprechen«, sagte ich. Logan hörte die Entschlossenheit in meiner Stimme.
»Ich bin sicher, daß alles, was er getan hat, zu unserem Besten war, Heaven. Tony mag dich. Er würde nichts tun, was dich aufregen könnte, besonders jetzt, wo du schwanger bist.«
»Hoffentlich«, sagte ich. Doch es gab so viel in meiner Vergangenheit, von dem Logan nichts wußte – sein Optimismus war verständlich.
Logan schlief den Schlaf des Unschuldigen, während ich mich unruhig hin- und herwälzte: Mein Geist war gefangen in den Geheimnissen und Schatten der Vergangenheit. Wach lag ich da und grübelte. Wie verrückt das Leben doch war! Drake würde es so ähnlich wie mir ergehen, und meinem eigenen Kind auch. Es würde niemals wissen, wer wirklich sein Vater war. Meine Gedanken überschlugen sich in der verzweifelten Anstrengung, die verwickelte Situation meines Lebens zu klären. So viele Fäden endeten bei Tony – Tony, der meine Mutter vergewaltigt, der Jillian in den Wahnsinn getrieben, der meine Liebe zu Troy zerstört und anscheinend das Leben von Luke genauso beherrscht hatte wie meines. Warum? Soweit ich wußte, hatten sie das erste und einzige Mal miteinander Kontakt gehabt, als Luke Tony telefonisch mitteilte, er habe mir ein Flugticket nach Boston gekauft, damit ich alles über ihn, Jillian und meine Mutter erfahren könne. Danach hatte Tony Luke eigentlich nie erwähnt. Warum sollte er auch? Zwischen ihnen lagen Welten, sie hätten genausogut auf verschiedenen Planeten leben können.
Doch das Telegramm von Lukes und Stacies Tod war an Tony gerichtet, und es war Tony, der alles arrangiert hatte. Warum hatte Tony für Luke den Zirkus gekauft, ohne mir davon zu erzählen?
Es war sinnlos; ich merkte, ich würde in dieser Nacht nicht mehr schlafen können. Logan schlief fest, er war ganz erschöpft gewesen von der Reise. Sein Atem war tief und regelmäßig. Ich stand auf, zog Hausschuhe und Morgenrock an und schlüpfte leise auf den nur schwach beleuchteten Flur. Zuerst warf ich einen Blick auf Drake. Auch er schlief fest. Da er sich freigestrampelt hatte, deckte ich ihn wieder zu und ging dann hinaus. Aber ich ging nicht in das Schlafzimmer zurück, sondern drehte mich um und ging nach unten.
Das Haus war still und voller geheimnisvoller Schatten. Mein eigener Schatten – zehnmal so groß wie ich – folgte mir an den Wänden wie ein dunkler Racheengel. An der Treppe hielt ich inne und bedachte mein Vorhaben noch einmal. Früher war ich überhaupt nicht neugierig gewesen, aber heute… heute nacht brauchte ich eine Antwort.
Ich ging direkt in Tonys Büro und schaltete das Licht an. Sein großer Schreibtisch war übersät mit Papieren. Tony haßte es, wenn jemand seine Sachen durchsuchte, das wußte ich. Er mochte es nicht einmal, wenn die Mädchen saubermachten. Daher machte das Büro immer einen verstaubten, ungepflegten Eindruck, doch Tony waren sein Privatbereich und seine eigene Ordnung wichtiger als alles andere.
Mein Blick fiel auf die Ablagefächer. Ich war froh, daß die Papiere alphabetisch geordnet waren. Zuerst, als ich unter C für Casteel nachschaute, fand ich nichts. Verwirrt und enttäuscht dachte ich nach. Dann zog ich den Ordner mit dem H heraus und suchte nach der Aufschrift H EAVEN . Als ich meine Akte in der Hand hielt, setzte mein Herz vor Aufregung einen Moment lang aus.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und durchsuchte den Ordner. Zunächst waren dort nur meine
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