Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
sagte kein Wort und sah ihm zu, wie er im Zimmer herumlief. Er trug einen frischen, hellblauen Morgenmantel aus Seide und sah unglaublich munter aus. Wollte er mich glauben machen, daß die Geschehnisse der vergangenen Nacht sich nur in meiner Phantasie abgespielt hatten?
»Noch einen Augenblick, dann kommt dein Frühstück«, sagte er munter.
»Es hilft nichts, wenn du jetzt nett zu mir bist, Tony. Ich habe nicht vergessen, was gestern geschehen ist.«
»Gestern!« er drehte sich zu mir um und lächelte. »Oh… gestern abend. Du meinst, als ich dich anschrie, unten in der Halle. Ich habe es dir doch schon erklärt und mich dafür entschuldigt, Annie. Du solltest nicht so nachtragend sein. Wir haben alle unsere Schwächen.«
»Ich rede nicht davon. Ich rede davon, daß du mitten in der Nacht in mein Zimmer gekommen bist«, fauchte ich ihn an. Ich empfand nicht das geringste Mitleid mehr mit ihm. Er mußte für das, was er tat, die Verantwortung tragen; und so oder so – ich war entschlossen, noch an diesem Tag das Haus zu verlassen.
»Was? Du hattest wieder so einen Traum? Armes Kind!
Was du alles durchmachen mußt.« Er schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen wie ein besorgter Großvater. »Nun, wenn du erst etwas Ordentliches im Magen hast – «
»Bring mir meinen Rollstuhl. Ich fahre jetzt zum Telefon.«
»Den Rollstuhl? O nein, Annie, heute nicht. Du brauchst mindestens einen Tag strenge Bettruhe nach den Anstrengungen gestern. Ich bringe dir das Frühstück heute ans Bett. Ist das nicht wunderbar?«
»BRING MIR MEINEN ROLLSTUHL!« forderte ich in dem schärfsten Tonfall, den ich mir ihm gegenüber jemals herausgenommen hatte. Er starrte mich einen Augenblick lang an; dann ging er hinaus, als hätte er meine Worte überhaupt nicht gehört.
»TONY!«
Er drehte sich nicht mehr um und schloß diesmal selbst die Tür.
»DU KANNST MICH HIER NICHT WIE EINE GEFANGENE BEHANDELN!«
Wütend zog ich mich zum Sitzen hoch und schob meine Beine langsam über die Bettkante. Ich fühlte mich schwach und müde, aber meine Entschlossenheit war riesengroß. Ich würde diesen Raum verlassen, und wenn ich hinauskriechen mußte! Ich mußte Rye finden. Ich war mir sicher, daß er mir helfen würde.
Als ich gerade vorsichtig meine Beine auf den Boden stellte, kam Tony mit dem Frühstückstablett hereingerauscht.
»O nein, Annie. Du mußt dich so hinsetzen, daß du am Kopfende des Bettes lehnst. Dann kann ich den Tisch über deine Beine stellen.«
Er stellte das Tablett auf den Nachttisch, packte meine Oberarme und drückte mich zurück ins Bett. Meine schwache Gegenwehr hatte keinerlei Wirkung.
»Bitte«, schrie ich. »Bitte, laß mich aufstehen.«
»Wenn du gegessen und dich ausgeruht hast, werde ich sehen, wie es dir geht, Annie. Ich verspreche es dir.« Er lächelte mich an, als wären wir die besten Freunde, und begann, meinen Bettisch aufzubauen. Dann stellte er das Frühstück darauf und trat zurück. Sein Mund war zu einem fratzenhaften Grinsen verzerrt.
Er ist verrückt, dachte ich. Irgend etwas war in der vorhergehenden Nacht mit ihm geschehen. Weitere Versuche, ihn zu erreichen, schienen keinen Sinn mehr zu haben.
Ich blickte auf das Tablett hinunter. Da stand ein Glas Orangensaft und heiße Hafergrütze mit etwas darauf, das wie Honig aussah. Daneben sah ich eine trockene Scheibe Toast und ein Glas Magermilch. Rye Whiskey hatte dieses Frühstück bestimmt nicht zubereitet. Tony mußte früh aufgestanden sein und alles selbst gemacht haben. Als er jetzt in seiner ganzen Länge vor mir stand, dachte ich, daß ich trotzdem essen sollte, um wieder etwas Energie zu bekommen. Ich trank den Saft und aß einige Löffel von dem Haferbrei. Der Toast schmeckte wie ein Stück Pappe, aber ich spülte ihn mit ein paar Schluck Milch hinunter. Tony nickte, sein irres Lächeln schien auf seinem Gesicht festgefroren zu sein.
Als ich fertig war und mich zurücklehnte, nahm er das Tablett und den Tisch fort.
»So«, sagte er, »jetzt fühlst du dich bestimmt schon viel besser, nicht wahr? Soll ich dich jetzt mit ein wenig Massageöl einreiben?« fragte er.
»Nein«, sagte ich so abweisend, wie ich konnte.
»Nein? Weil du dich schon viel besser fühlst?«
»Ja«, sagte ich unter Tränen. »Bitte, bitte, bring mir jetzt meinen Rollstuhl.«
»Nach deinem Morgenschläfchen werden wir weitersehen«, sagte er. Dann ging er zum Schrank und holte ein rotes Nachthemd heraus, das er mir ebenfalls mitgebracht
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